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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Philosophie. Was Gelächter im Saal zur Folge hatte.
    Dann sah ich ihn erst wieder viele Jahre später am anderen Ende der Welt.
     

4
     
    An einem frühen Morgen nach meiner Tat – am Morgen des nächsten oder des übernächsten Tages oder später, ich weiß nicht, wie lange ich ohne Bewusstsein war – öffnete ich die Augen, und es war wie der Blick in ein Buch, und nur ein Gedanke stand da geschrieben: Ich bin tot. Und auf der nächsten Seite: Neugierde, was das ist. Ich fürchtete mich nicht. Schmerzen hatte ich nicht. Hunger hatte ich nicht, aber Durst hatte ich. Ich lag auf dem Rücken in einem Spitalsbett, an meinen Gelenken Handschellen, die über eine dünne Kette mit dem Eisenrahmen des Bettes verbunden waren. In meinem rechten Unterarm steckte ein Infusionsschlauch; mein Kopf war mit Verbandszeug eingewickelt, nur Augen, Nase und Mund schauten heraus; in der Nase steckte ebenfalls ein Schlauch; auf meiner Brust klebten Saugnäpfe an Kabeln eines Elektrokardiographen. Meine Mundhöhle fühlte sich für die Zunge wie trockenes, rissiges Holz an.
    Neben dem Bett saß meine Mutter.
    »Jetzt bist du wieder der, der du mit vier Jahren gewesen bist«, sagte sie und gab mir Tee in einer Schnabeltasse zu trinken. »Aber wer warst du in der Zwischenzeit? Weißt du es selbst nicht? Wer weiß es? Wer bist du? Bist du mein Sohn?«
    Solche Dinge sagte sie, während mich die kleinen Schlucke Tee glücklich machten. Dass ich ihr fremd sei, sagte sie, als sie mir den Mund abtupfte, fremder als jeder beliebige Mann, der ihr auf der Straße begegne. Sie hielt ein Stück Papier in den Händen, auf das sie nun nach jedem Wort einen Kuss drückte. Ich hätte sie gern danach gefragt, aber mir fiel nicht ein, wie das Wort Papier mit den Lippen zu formen wäre. Ich versuchte es; die Lippen schlossen sich, aber weil ich spürte, dass sie sich nicht mit einem ›P‹, sondern mit einem ›M‹ öffnen würden, ließ ich es. Sie hielt mir das Papier vor die Augen. Es war eine Fotografie. Ich war darauf zu sehen, als Baby – ein in unserer Familie wohlbekanntes Bild: meine Mutter, eine sehr junge Frau in einem weiten hellen Kleid mit kurzen Puffärmeln, trägt mich auf den Armen, aber nicht wie eine Mutter ein Kind trägt, sondern wie ein Schulmädchen ihren Ranzen vorne auf die Brust schnallt, wenn er ihr für den Rücken zu schwer ist. Moma hatte das gesagt: »Er war zu groß für dich«, hatte sie gesagt. Ich hatte ihr fast den Bauch gesprengt, und als ich endlich auf der Welt war, habe ich ihr Muskeln an Armen und Schultern wachsen lassen.
    »Das sind wir beide«, schluchzte sie, »wir waren Mutter und Kind. Und später nie mehr, nie mehr. Moma hat dich mir weggenommen.« Ob ich mich an unsere letzte halbe Stunde in Budapest erinnere. Als wir hinten in dem Laster gesessen hätten; sie wisse, es sei eine angespannte Stimmung gewesen, aber damals seien wir auch Mutter und Kind gewesen. »Und dann noch einmal, nur noch einmal, in Burgenland, die unbeschwerteste Zeit in meinem Leben.« Ob ich manchmal an den Friseurladen in Burgenland denke, wo wir in der Nacht immer so lange geredet hätten, bevor wir einschliefen, beide in einem Bett. Wir hätten nie nach Wien fahren sollen, sagte sie, und nie hierher in den Westen. Und sagte, dass ich einen erschreckend erwachsenen Ausdruck im Blick hätte; wie damals, als sie mich nach meinen fünf Tagen und vier Nächten in der Báthory utca gefunden habe.
    »Sag mir die Wahrheit!«, flehte sie mich an. »Sag mir die Wahrheit, András!«
    Ich wollte antworten, die Wahrheit werde überschätzt und die Höflichkeit werde unterschätzt; das wollte ich sagen, aber aus meinem Mund kamen die Worte: »Dornenfahrt … in … das … Blaubeet …«
    Meine Mutter starrte mich an, riss die Hände an den Mund und schrie auf. Ich wollte dazwischenrufen, ich hätte eigentlich etwas anderes sagen wollen, aber es wurde daraus: »Der Fall … kommt … vor … den … Stab … und … heuer … noch … die Fahrt … dann mag ich den … Moment gleich paaaa …«
    Sie warf sich über mich und weinte und küsste in die Schluchten der Wundverbände hinab, wo wahrscheinlich ein wenig Haut von meinem Gesicht zu sehen war. Ich nahm ihren feinen Milchgeruch wahr, und mir fiel ein, dass sie immer so gerochen hatte, erst jetzt fiel mir das ein. Ich dachte, nun wäre eine Gelegenheit zu testen, ob der Gott tatsächlich auf meiner Seite stünde oder ob alles nur ein Traumgerede von ihm gewesen war. Ich sagte ihm, er

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