Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
uns berichtet; im selben Alter, als der Angeklagte bereits sein Schandgewerbe betrieb, erlitt Gufler bei einem Unfall eine schwere Schädelverletzung, in deren Folge sich Irrsinn zeigte, der ihn am Ende in eine Bestie verwandelte. Der Angeklagte aber ist nicht zu dem geworden , als der er sich Ihnen heute präsentiert – er war immer so . Er war so als Zehnjähriger, als Neunjähriger, als Siebenjähriger. Das Böse ist nicht in ihn eingedrungen – es wohnte von Anfang an in ihm. Er ist das Böse.
Die Staatsanwaltschaft ist bei den Überlegungen, das Strafmaß betreffend, sich ihrer Verantwortung im höchsten Maße bewusst. Zweimal hat sie darum gebeten, den Prozessbeginn zu verschieben, um dem Gericht auch jene Zeugen zu präsentieren, deren Aussagen vielleicht nicht bei der Klärung der Schuldfrage, umso mehr aber für die Bestimmung des Strafausmaßes notwendig sind.
Zu diesen Zeugen gehören auch Frau Dr. Dorothea Vries und Herr Dipl.-Ing. Gustav Blecha. Die beiden haben im Frühling 1957 an mehreren Wiener Schulen eine Feldstudie durchgeführt, die Auskunft geben sollte über das Leben und die Leidensgeschichte der Ungarnflüchtlinge. Nach ihren Angaben haben sie Hunderte Schüler interviewt, viele Geschichten seien einander ähnlich gewesen, an die meisten Schüler erinnern sie sich heute nicht mehr. An den Angeklagten allerdings erinnern sie sich sehr genau. Und das ist kein Wunder, hat er ihnen doch eine Geschichte aufgetischt, bei der ihnen die Grausbirnen aufstiegen. Unter anderem hat er aus seiner Großmutter eine kommunistische Furie gemacht, die im Auftrag des kommunistischen Geheimdienstes nach Österreich gekommen sei, um die ehrlichen Immigranten zu bespitzeln. Er hat sie weiters beschuldigt, am Tod ihres Mannes wahrscheinlich mehr als nur beteiligt gewesen zu sein – und das, obwohl der Großvater des Angeklagten zu dieser Zeit mehr oder wenig fröhlich lebte. Die Geschichte, die der Angeklagte vor den staunenden Wissenschaftlern ausbreitete, ist so ungeheuerlich, dass ich mir in meiner Einfalt zunächst sagte, sie muss wahr sein oder zumindest Teile davon müssen wahr sein, denn so etwas kann sich niemand ausdenken, schon gar nicht ein Kind. Frau Dr. Vries und Dipl.-Ing. Blecha sagten vor Gericht aus, sie hätten damals ähnlich gedacht. Nachgegangen sind sie den Geschichten allerdings nicht.
Die Staatsanwaltschaft hingegen hat diese Mühe auf sich genommen und dabei vielleicht nicht die ganze Wahrheit, aber einige interessante Fakten ans Tageslicht befördert. Zunächst konnten wir in Erfahrung bringen, dass sowohl die Großmutter des Angeklagten als auch der Großvater in Ungarn im Gefängnis saßen. Dem Großvater, einem Internisten, wurde vorgeworfen, er habe bei einer Operation infolge einer groben Fahrlässigkeit oder sogar vorsätzlich den Tod eines Patienten herbeigeführt. Warum die Großmutter eingesperrt war, konnten wir nicht eruieren. Sie selbst gab vor Gericht darüber keine Auskunft. Nun neigen wir in politischen Dingen zur Schwarzweißmalerei und sind gern bereit, von vornherein als unschuldig anzusehen, wer hinter dem Eisernen Vorhang ins Gefängnis gesperrt wird. Tatsächlich hat aber auch das kommunistische Ungarn Gesetze, die nicht nur der Aufrechterhaltung der Diktatur dienen, sondern wie bei uns auch der Aufrechterhaltung des zivilen Lebens. Verbrecher werden auch drüben eingesperrt. Auch wenn es zu dieser Verhandlung nicht direkt in Beziehung steht, ist es doch aufschlussreich zu wissen, dass sowohl die Großmutter als auch der Großvater des Angeklagten im Sinne der auch bei uns geltenden Gesetze Kriminelle sind. Auf die Mutter und den Vater werden wir später näher eingehen.
Frau Dr. Vries erinnert sich sehr genau an eine Frage, die sie dem Angeklagten damals gestellt hatte: ob er sicher sei, dass die Leute, die behaupteten, seine Eltern zu sein, tatsächlich seine Eltern sind. Worauf er geantwortet habe, er wisse es nicht. Als sie die Frage wiederholte, habe er nicht anders geantwortet. Was weiter geschah, schilderte uns Frau Dr. Vries. Ich zitiere aus dem Protokoll: ›Ich sagte, er müsse sich im Klaren darüber sein, dass wir uns an die Polizei wenden, wenn er uns weiter im Unklaren lasse. Da fing er an zu schreien. Ich sagte, er müsse keine Angst haben, die Polizei werde dafür sorgen, dass ihm diese Leute nichts antun. Er sprang auf, rannte zum Fenster, riss es auf, kletterte auf das Sims und sagte, wenn ich nicht auf der Stelle schwöre, nicht zur
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