Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
hat uns diesen Begriff erklärt. Laut biblischer Auffassung, führte er aus, ist Luzifer, der Satan, aus dem Licht und der Liebe Gottes verstoßen worden, und das komme einer Verneinung Gottes und der Schöpfung gleich, einer universellen Verneinung sozusagen, und nichts anderes sei das Böse. Der Theologe erklärte uns weiter, wir Menschen, ohne Ausnahme, würden im Laufe unseres Lebens immer wieder von dieser Verneinung angesteckt wie von einer Krankheit, die einen gefährlicher, die anderen weniger gefährlich; das heißt, das Böse dringe in uns ein – wie es in den Mörder Max Gufler im Laufe seines Lebens eingedrungen ist. In den meisten Fällen gelinge es unseren Selbstheilungskräften, unserem moralischen Immunsystem, mit diesem Bazillus fertig zu werden. Sehr selten – ich gebe wieder, was der Theologe sagte – geschehe es, dass Satan selbst auf der Welt erscheine, häufiger, dass er einen von den Seinen schicke – zu Eva ins Paradies den Samiel, den Beelzebub zu dem alttestamentarischen König Ahasja und in Goethes Faust den Herrn Urian zum Hexentanz in der Walpurgisnacht.
Wie gesagt, ich bin kein Theologe, aber ich finde, in einem katholischen Land wie Liechtenstein, das von einem christlichen Fürsten nach christlichen Grundsätzen vortrefflich geführt wird, sollte auf die Ausführungen eines Kirchenmannes gehört werden.
Großen Eindruck hat der Zeuge Herr Dr. Hans Martin hinterlassen. – Ja, er heißt tatsächlich so! Perfiderweise hat der Angeklagte, als er sich als Prostituierter, Zuhälter und Erpresser betätigte, diesem Mann, bevor er ihm die Ehre nahm, den Namen gestohlen. – Großen Eindruck deshalb, weil er uns an seinem Leben demonstrierte, was die Lüge als satanische Weltverneinung anzurichten im Stande ist. Wir haben einen gebrochenen Mann im Zeugenstand gesehen, einen Mann, der alles verloren hat, seinen Beruf, seine Ehre, sein Glück. Aus eigener Schuld, wie er sagte. Was war sein Vergehen? Nichts anderes als sein menschenfreundliches Herz. Er hat einer Kollegin – einer vermeintlichen Kollegin! – und deren Familie in der Not geholfen.
Im Sommer 1956 waren sie nach Österreich gekommen. Sie behaupteten, sie seien geflohen. Vor wem geflohen? Zu dieser Zeit herrschte in Ungarn politisches Tauwetter, die liberalen Kräfte um Imre Nagy, dem späteren Idol des Aufstandes und Chef einer freien Regierung, gewannen an Einfluss, nachdem Nikita Chruschtschow in der Sowjetunion die Entstalinisierung eingeleitet hatte. Der grausame, verhasste ungarische Diktator Rákosi war zum Rücktritt gezwungen worden – alles wurde im Sinne der Freiheit besser. Und in dieser Zeit flohen sie? Genau in dieser Zeit. Vor wem? Vor was? Wie auch immer, Herr Dr. Martin hat sie bei sich aufgenommen. Eine Kollegin lässt man nicht im Stich. Auch wenn sie mitsamt ihrer Familie antanzt, auch wenn sich die Familie aufführt wie die Axt im Walde. Mehrere Wochen hat er sie in seiner Wohnung untergebracht, anschließend habe er die Wohnung renovieren lassen müssen. Für eine Kollegin tut man alles, das ist eine Frage der Ehre. Er war ein Bewunderer ihres Buches über einen ägyptischen Pharao. Das Buch soll das Beste sein, was zu diesem Thema geschrieben wurde.
Ich bin kein Ägyptologe, ich bin nur ein Jurist. Als Jurist aber bin ich ein Spürhund, und ich habe herausgebracht, dass dieses berühmte Buch gar nicht von der Großmutter des Angeklagten geschrieben worden ist, sondern von jemand anderem. Sie hat es gestohlen und als das ihrige ausgegeben. Lüge, satanische Weltverneinung.
Für seine Güte hat Herr Dr. Martin bitter bezahlen müssen. Ohne jeden Grund hat ihn der Angeklagte beschuldigt, ihn, das Kind, das nie ein Kind gewesen ist, sexuell missbraucht zu haben – just zu jener Zeit, als der Angeklagte sich als Prostituierter, Zuhälter und Erpresser betätigt hatte. Gegen eine Anschuldigung dieser Art kann sich ein Mann nur schwer zur Wehr setzen. Herr Dr. Martin konnte es nicht. Er ist zusammengebrochen.
Ein halbes Jahr später, als der Aufstand in Ungarn ausbrach, haben sich der Angeklagte, sein Vater und seine Mutter – wir trauen unseren Ohren nicht! – auf den Weg nach Ungarn gemacht. Alle wollten aus Ungarn heraus, sie wollten hinein. Warum? Sehr einfach: Um gleich darauf wieder herauszumarschieren. Weil die Ungarnflüchtlinge damals in Österreich auf – wie heute ein jeder einsieht – unverantwortliche Weise gehätschelt wurden. Seien wir ehrlich: Sie haben alles gekriegt, man hat
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