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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Polizei zu gehen, springe er, und wenn er überlebe, behaupte er, wir hätten ihn gestoßen. Ich sagte zu ihm: Ich glaube dir nicht. Wir glauben dir nichts mehr. Du bist ein Lügner. Du bist ein böser, böser Lügner!‹ Frau Dr. Vries und Herr Dipl.-Ing. Blecha müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, verantwortungslos gewesen zu sein. Sie hätten sich selbstverständlich unverzüglich entweder an den Direktor der Schule oder an die Eltern des Angeklagten oder tatsächlich an die Polizei wenden müssen. Herr Dipl.-Ing. Blecha begründet diese Unterlassung folgendermaßen – ich zitiere: ›Wir hatten Angst vor ihm. Das ist die Wahrheit. Eine blöde Angst. Wenn wir ihn nicht in Ruhe lassen, wird er uns auch nicht in Ruhe lassen. Da haben wir ihn in Ruhe gelassen.‹ Dipl.-Ing. Blecha hat sogar Angst vor den Sommersprossen des Angeklagten. Das hat Heiterkeit im Saal hervorgerufen. Er ist der Meinung, es seien keine Sommersprossen. Ich gebe zu, sie sehen nicht wie solche aus. Aber ich bin kein Mediziner, ich bin nur Jurist.
    Übrigens: Auch Frau Dr. Vries und Herr Dipl.-Ing. Blecha haben den Angeklagten für mindestens zwei Jahre älter geschätzt, als er selbst angibt. Sie glaubten damals, seine Eltern hätten sein Alter vor den Behörden herabgesetzt, weil sie sich dadurch größere Zuwendungen erhofften. Je kleiner die Kinder waren, desto leichter war es für die Flüchtlinge, Mitleid zu erregen und Hilfe jeder Art zu bekommen. Ich habe den Angeklagten verschiedenen Fachleuten vorgeführt, Ärzten, Juristen, Polizisten, Psychologen, Priester, allesamt haben ihn auf mindestens zwei Jahre älter geschätzt.
    Die Staatsanwaltschaft führte einen Briefwechsel mit dem zuständigen Bürgermeisteramt der Stadt Budapest, was eine höchst aufwendige Sache war. Allerdings hatten wir Glück und gerieten schließlich an einen besonders freundlichen und hilfsbereiten Beamten, der zudem hervorragend Deutsch schreibt. Um mich kurz zu halten: Trotz umfangreicher Bemühungen konnte kein Eintrag über die Geburt oder die Taufe eines Knaben gefunden werden, der den Namen des Angeklagten trägt und ungefähr das von ihm angegebene Alter hat.
    Ich habe – mag man es mir als Übereifer ankreiden – beantragt, Untersuchungen zur Altersbestimmung aufgrund des Mineralisationsgrades des Zahndentins am Angeklagten vorzunehmen. Leider ist dem Antrag nicht stattgegeben worden.
    Ich appelliere an Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren Geschworenen, und an Sie, sehr geehrter Herr Vorsitzender, die Sie über das Strafmaß zu befinden haben, der Lüge nicht zum Sieg zu verhelfen! Ich bin davon überzeugt, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat das achtzehnte Lebensjahr längst vollendet hatte, dass also die Artikel 22 und 25 des Gesetzes vom 1. Juni 1922 , betreffend Abänderung des Strafrechtes, der Strafprozessordnung und deren Nachtrags- und Nebengesetze, in welchen geregelt wird, wer als Jugendlicher zu gelten und mit welchen Strafen ein solcher zu rechnen hat, in diesem Fall nicht von Belang sind und deshalb auch nicht Anwendung finden können; dass der Angeklagte ohne Einschränkung als Erwachsener zu gelten hat, der für seine Tat zur Verantwortung gezogen werden kann und somit auch mit der Strafe rechnen muss, die in unserem Land für Mord vorgesehen ist.
     
    Der Angeklagte ist ein Verführer, und er ist ein Lügner. Er war bereits als Kind ein Lügner. Er ist als Lügner zur Welt gekommen. Damit wenden wir uns dem – von der Tat abgesehen – düstersten Kapitel unserer Geschichte zu.
    Ich behaupte: Die Lüge ist dem Angeklagten angeboren. Er hat sie geerbt, wie wir von Adam die Sünde geerbt haben, nur dass Adams Sünde an die gesamte Menschheit weitergegeben wurde und dabei beträchtlich verdünnt worden ist. Wir alle lügen. Die einen öfter, die anderen weniger oft. Die Lüge gehört nicht einem allein. Deshalb glaube ich eigentlich, die Sache nicht zu treffen, wenn im Fall des Angeklagten von Lüge gesprochen wird. Wir müssten ein neues Wort erfinden. Mit den mehr oder weniger harmlosen Flunkereien, derer wir uns täglich schuldig machen, hat diese ›satanische Weltverneinung‹ nichts zu tun.
    Dieser Begriff stammt nicht von mir. Ich bin nur ein Jurist und kein Philosoph und schon gar nicht ein Theologe. Diesen Begriff hat, wie Sie sich erinnern werden, Pater Edelbert eingeführt, der Präfekt im Schülerheim Tschatralagant, in dem der Angeklagte eine Weile seine Tage verbracht hat, um für die Schule zu lernen. Und er

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