Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Schlüssel für ihre Mansardenwohnung am Minoritenplatz hinter dem Burgtheater überreicht bekam. Manger zeigte mir auf seinem I-Phone ein paar Bilder – Dachschrägen, ein breites Bett, eingezäunt von Kissen, ein putziger Schreibtisch mit Messingwinkeln, eine Säule, an der afrikanische Masken hingen, Schrägfenster mit Blick auf das Dach der Minoritenkirche, eine Kochecke im Stil der Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky, wie mir Manger mit hochgezogenen Brauen mitteilte (vor ihm habe der Direktor eines Wiener Museums hier gewohnt, er habe die Einrichtung von ihm abgelöst – Internetanschluss ja, Fernseher nein) – alles in allem: ein Winterparadies für einen alten weltzufriedenen Mann wie mich. Ich brauchte keine Miete zu bezahlen und keine Betriebskosten, ich brauchte nicht zu putzen, das übernahm eine polnische Putzfrau, ich brauchte nicht zu sagen, wie lange ich blieb, denn ich durfte bleiben, so lange ich wollte. Frau Manger war froh, dass ihr Mann glücklich war, endlich einen Kumpanen zu haben; und er meinte, nun sei ich mit nahezu einklagbarer Garantie sein Freund. – Der Gott hatte seine Hand über mich gehalten und dafür gesorgt, dass ich an diesem Tage nicht hungern und dass ich über den kommenden Winter nicht frieren musste.
Frau Manger brachte mich in ihrem silbergrauen Audi zur U-Bahn-Station Heiligenstadt. Sie hatte mich eigentlich in die Stadt und bis vor die Haustür am Minoritenplatz fahren und mir die Wohnung zeigen wollen. Ich hatte abgelehnt. Wenn einem an einem einzigen Tag so viel Gutes widerfahre, sagte ich, müsse der Mensch ein wenig mit sich allein sein.
»Ich bin mir sicher, Gert hat Ihnen von seiner Freundin erzählt«, sagte sie, nachdem sie den Motor abgeschaltet hatte. »Aber Sie wissen wahrscheinlich nicht, dass ich es weiß. Behalten Sie es für sich. Die Sache ist kein großes Drama, aber ein kleines schon. Und Sie könnten darin eine Rolle spielen, Joel, deshalb sollten Sie Bescheid wissen. Sie sind seine Chance, von ihr loszukommen. Das weiß er nicht. Aber ich weiß es. Er leidet sehr unter dieser Beziehung. Ich gebe ihr die Schuld an seinem Infarkt. Dieses Nest jedenfalls soll in Zukunft für sie gesperrt sein.«
Ich schwieg. Sie sah mich an mit einem Blick, der sagte: Ohne Worte ist sogar noch besser als mit. Ein paar Minuten, dann stieg ich aus.
Ich ging zu Fuß. Der späte Nachmittag dämmerte. Ich kannte mich aus. Moma und Opa hatten hier in der Nähe gewohnt. Von hier aus war ich – mehr als fünfzig Jahre war es her – an einem Wintertag den weiten Weg durch Schneeregen und Matsch bis nach Hietzing zu Herrn Dr. Martins Wohnung gegangen, um Moma vor ihm zu retten. Erst wollte ich den gleichen Weg noch einmal gehen. Aber ich fand keinen Reiz in der Erinnerung. In keiner Erinnerung. Ich kehrte um und setzte mich am Perron der U-Bahn auf eine Bank und dachte nichts.
Als ich bereits über einen Monat am Minoritenplatz wohnte, wartete eines Abends – es war kurz vor Weihnachten, im Stiegenhaus roch es nach Kerzenwachs und Tannennadeln, nach süßem Lebkuchen und Punsch – Marithér vor der Tür. Sie saß auf der Stiege, die von der letzten Liftstation hinauf ins Dachgeschoss führte, sie war geschminkt, trug Stiefel mit hohen Absätzen und hatte gar nichts von einer Farmerin an sich. Ich kam gerade von einem Spaziergang durch die Stadt zurück. Ob ich eine Stunde für sie übrig hätte, fragte sie. Es gebe etwas, was sie seit langer, langer Zeit belaste, worüber sie aber mit niemandem bisher gesprochen habe; nein, mit ihrem Mann habe es nichts zu tun, auch nicht mit seiner Geliebten, diese Sache sei überstanden und ausgestanden; es betreffe nur sie selbst. Mit mir, so bilde sie sich jedenfalls ein, könne sie darüber sprechen, als einzigem. Für einen Kauz hielt sie mich nicht mehr …
Nun aber ist mein Urlaub in die Gegenwart beendet.
9
»Hohes Gericht, sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr geehrter Herr Verteidiger, meine sehr geehrten Damen und Herren Geschworenen.
Die Frage lautete nicht: Womit haben wir es zu tun? Sondern: Mit wem haben wir es zu tun? Ersteres stand von Anfang an fest: Mord. Es gibt ein Geständnis, es gibt eine Zeugin; die Analyse des Tatorts erbrachte eindeutige Ergebnisse, ebenso die medizinischen Befunde. Der Anwalt des Angeklagten hat zwar versucht, Geständnis und Tat zu relativieren und die Zeugin zu diskreditieren. Aber nichts davon hat der Herr Vorsitzende zugelassen. Somit können wir
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