Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Verführer.
Ich bin mir im Klaren, dass eine solche Aussage für einen Juristen eigentlich nicht statthaft ist. Der Jurist sagt: In diesem oder jenem Punkt hat der Angeklagte gelogen. Und dafür hat er einen Beweis vorzulegen. Er behandelt die Lüge als einen Aspekt des Verhaltens. Wenn ich einen Menschen einen Lügner oder einen Verführer nenne, meine ich hingegen seinen gesamten Charakter. Wir haben es jedoch mit einem besonderen Fall zu tun, dessen juristische Erfassung über das Juristische hinausweist. Unser Charakter ist, wie ein großer Mann sagte, unser Schicksal. Der Charakter des Angeklagten ist aber leider nicht nur sein Schicksal, sondern wurde zum Schicksal von etlichen Menschen, die mit ihm in Verbindung traten – so auch von Frau Lundin.
Wir haben Frau Pongratz’ Sohn Emil gehört. Der Vorsitzende dieses Verfahrens war so feinfühlig und klug, bei dessen Aussage die Öffentlichkeit von der Verhandlung auszuschließen, weil das, was er uns im Detail zu erzählen hatte, deren sittliche Empfindungen in einer Art verletzt hätte, wie es nicht zu verantworten gewesen wäre. Wir erfuhren von sexuellen Praktiken, an kranken Männern verübt, über die die meisten von Ihnen bis an ihr Lebensende im Unklaren geblieben wären, hätte das Los sie nicht zu Geschworenen bestimmt. Emil, der in kindlicher Verirrung sich zwar nicht an diesen Schändlichkeiten beteiligt, aber doch aus Neugierde dabei zugesehen hatte, hatte sich bald voll Ekel abgewandt – wie schon vorher sein Freund Franz Klaubauf, der aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Verhandlung erscheinen konnte, aber im Rechtshilfeweg vernommen wurde und bei dieser Gelegenheit schilderte, dass er bis heute Albträume habe, die von den wenigen Treffen mit dem Angeklagten herrührten. Prof. Dr. Toren, der beigezogene Sachverständige, hat bestätigt, dass bereits eine einzige Begegnung mit einem außergewöhnlich bösen Menschen zu traumatischen Störungen führen könne, die unter Umständen und bei Nichtbehandlung ein Leben andauern. Wobei ich zugebe, den Ausdruck ›böser Mensch‹ hat er nicht verwendet; er sprach von einer moralisch und ethisch devianten Persönlichkeit, was aber, wie er einräumte, in eine nichtwissenschaftliche Sprache übersetzt das Gleiche bedeute.
In Übereinstimmung mit seiner Mutter hat Emil Pongratz ausgesagt, der Angeklagte habe damals behauptet, er sei neun Jahre alt. Emil hatte ihm das geglaubt, ebenso wie seine Mutter. Frau Pongratz, bei allen Vorbehalten gegenüber der Tätigkeit, mit der sie ihren und ihres Sohnes Lebensunterhalt und dessen Ausbildung finanziert, ist für die Staatsanwaltschaft eine glaubwürdige Person und insofern eine wertvolle Zeugin, als wir sie – wahrscheinlich und leider wegen ihres ›Berufes‹ – für besonders menschenkundig halten. Sie hatte den Angeklagten sogar auf älter geschätzt, auf zehn Jahre. Er hingegen behauptet heute, er sei damals erst sieben gewesen. Er macht sich also um zwei oder drei Jahre jünger. Wem wollen wir glauben?
Wie auch immer. Als Siebenjähriger oder als Neun- oder Zehnjähriger hat er sich sowohl als Prostituierter als auch als sein eigener Zuhälter betätigt. Er hat seine Freier zu sexuellen Praktiken verführt, die sich nicht einmal deren perverse Gehirne hätten ausdenken können, um sie anschließend zu erpressen und ganze Monatslöhne aus ihnen herauszuholen. Es ist der Staatsanwaltschaft gelungen, zwei dieser Freier ausfindig zu machen. Die beiden Herren waren unter Wahrung ihrer Anonymität bereit auszusagen. Ich selbst habe ein Gedächtnisprotokoll der Gespräche mit ihnen verfasst und es dem Gericht vorgelegt. Daraus geht hervor, dass der Angeklagte kalt und brutal drohte, das Leben der beiden Herren zu ruinieren, wenn sie nicht zahlten. Ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft einen vergleichbaren Fall von Verderbtheit vorzuweisen hat.
Ohne Zweifel gab und gibt es ähnliche, ohne Zweifel schlimmere Widerwärtigkeiten in der Geschichte der Justiz, aber es ist doch etwas anderes, ob man solcher Unmoral bei einem erwachsenen Mann wie zum Beispiel dem Frauenmörder Max Gufler begegnet, der vor zehn Jahren in Österreich zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und im vergangenen Jahr im Kerker starb, oder bei einem Kind wie dem Angeklagten. Und was ist daran anders? Dies meine Antwort: Aus Gufler ist die Bestie geworden ; das Böse hatte viel Zeit, in diese Person einzudringen und sich in ihr zu entfalten. Er war ein liebes, fröhliches Kind, wird
Weitere Kostenlose Bücher