Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
ihnen die guten Dinge förmlich aufgedrängt. Und sie haben genommen. So auch der Vater und die Mutter des Angeklagten.
Und woran waren die beiden besonders interessiert? An neuen Identitäten. Was haben die österreichischen Behörden getan, wenn da einer kam und unter Tränen sagte, er sei um sein Leben gerannt, auf und davon, hinter ihm die Panzer und Kalaschnikows, habe alles zurückgelassen, sein ganzes Hab und Gut und eben auch seine Papiere? Sie haben gesagt: So, dann setz dich erst einmal hin, trink erst einmal einen Kaffee, iss erst einmal einen Apfelstrudel und dann erzähl: Wie heißt du, wer bist du, was hast du für einen Titel? Und die Behörden haben alles geglaubt, weil sie sich offenbar nicht vorstellen konnten, dass jemand in so einer Lage lügt.
Die Mutter und der Vater des Angeklagten aber haben gelogen, gelogen, dass sich die Balken biegen. Sie haben sich andere Namen gegeben, und sie haben sich Titel angeeignet. Frau Doktor. Herr Doktor. Es hat nie eine Frau Doktor, es hat nie einen Herrn Doktor gegeben! Wir begrüßen die Entscheidung sowohl des Krankenhauses in Feldkirch, die Mutter des Angeklagten zu entlassen, als auch der Firma, bei der der Vater des Angeklagten beschäftigt war, in gleicher Weise gegen ihn vorzugehen.
Lüge! Satanische Weltverneinung! Von den Großeltern auf die Eltern, von den Eltern auf den Angeklagten weitergegeben. Was sind das für Menschen? Und dann Mord. Hinterher ist man immer klüger. Man hätte es aber vorher schon wissen müssen! Diese Verderbtheit, diese existentielle Amoralität kennt keine Grenzen. Wer mit solcher Skrupellosigkeit lügt, betrügt, das Leben unbescholtener, angesehener Menschen zerstört, der mordet auch, und er tut es, um sich zu bereichern.
Der Mörder kommt in der Nacht, und er lässt seinem Opfer keine Chance. Wenn der Lügner erst als Mörder kommt, ist es zu spät. Gegen die Lüge aber können wir etwas tun. Wer lügt, hat einen nötig, der ihm glaubt. Und dieser macht sich ebenso schuldig. Wer dem Lügner glaubt, öffnet dem Mörder die Tür. Meine sehr geehrten Damen und Herren Geschworenen, sehr geehrter Herr Vorsitzender, glauben Sie ihm nicht!
Hinterher ist man immer klüger. Hoffentlich ist man hinterher klüger!
Nein, ein Zwischending zwischen einem Engel und einem Teufel ist der Angeklagte nicht. Und dennoch hat Frau Pongratz mit einem recht: mit dem kleinen Wörtchen Ding . Frau Pongratz ist gewiss eine einfache und ungebildete Frau, und darüber, wie sie für sich und ihren Sohn den Lebensunterhalt bestreitet, möchte ich hier kein Urteil abgeben, aber aus ihren Antworten konnten wir schließen, dass sie ein Gespür für Menschen hat und darüber hinaus ein Gespür für so manches, was sich ohne weiteres nicht mit Logik und Verstand begreifen lässt. Frau Pongratz hat einen inneren, ihr selbst wahrscheinlich nicht bewussten Widerwillen, den Angeklagten als einen Menschen zu bezeichnen. Sie spricht von Engeln und Teufeln. Das mag man als Unsinn abtun, aber es zeigt uns nur ihre Unsicherheit im Umgang mit und ihr Erstaunen vor dem Angeklagten. Als Menschen will sie ihn nicht sehen, sehen will sie ihn als Ding. Damit ist eigentlich alles gesagt. An ein Ding moralische Kriterien anzulegen, darauf würde niemand kommen. Die arme Frau Lundin hat vielleicht an die Barmherzigkeit des Angeklagten appelliert. Ein Ding aber kennt keine Barmherzigkeit.
Ich sagte, es entsetzt uns, wenn wir solcher Unmoral in einem Kind begegnen. Wir können es nicht glauben. Und ich will Sie beruhigen: Wir brauchen es auch nicht zu glauben. Wir müssen unseren Blick auf den Angeklagten zurechtrücken, um einen gehörigen Winkel allerdings, und schon sehen wir klar: Er ist kein Kind, er war nie ein Kind, und auch wenn ich bereits die Empörung höre, die gleich, ausgehend von der Verteidigerbank, einige gute Herzen ergreifen wird, sage ich es nun doch, spreche ich es endlich aus: Er ist kein Mensch, und er war nie ein Mensch.
Wir haben tatsächlich die Möglichkeit, hinterher klüger zu sein. Wir leben in einem glücklichen Land. Wir leben in einem wohlregierten Land. Liechtenstein hat sich nicht vom Wahnsinn, und – sprechen wir es aus – nicht vom Teufel anstecken lassen. Wir sind nicht mit fliegenden Fahnen zu Hitler übergelaufen, und schon am Ersten Krieg haben wir uns nicht beteiligt. Die kluge Politik des Fürsten hat aus dem kleinen Bauernländchen vor dem letzten Krieg eines der reichsten Länder im heutigen Europa werden lassen.
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