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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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sagen: Der Fall ist geklärt. Er ist geklärt, weil er von Anfang an klar war. Nur eine einzige Sache ist noch zu erörtern: das Strafmaß. Dies aber zwingt uns, die Frage zu beantworten: Mit wem haben wir es zu tun?
    Frau Pongratz hat ein bedenkenswertes Bild gefunden. Ich zitiere aus ihrer Aussage: ›Hans-Martin ist ein Zwischending zwischen einem Engel und einem Teufel.‹ – Sie kann sich nicht an den richtigen – ich sage lieber: den gegenwärtigen – Namen des Angeklagten gewöhnen, was für den Psychiater und Gutachter Prof. Dr. Toren ein Indiz dafür ist, dass sie in den vergangenen Jahren sehr oft über ihn gesprochen, also sehr oft seinen vermeintlichen Namen genannt und im Stillen wohl auch sehr oft an ihn gedacht hat, denn nur so präge sich ein Name derart ins Gedächtnis ein, dass er sich trotz besseren Wissens immer wieder in den Vordergrund dränge. Das heißt, der Angeklagte, der ihr in Wahrheit nicht öfter als ein Dutzend Mal begegnet ist, vermutlich weniger, hat einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen. Wir fragen uns, warum. – Ich zitiere weiter Frau Pongratz: ›Hans-Martin hat in wenigen Augenblicken meine Zuneigung gewonnen. Er hat mich gerührt, wissen Sie! Wenn er vor mir saß, konnte ich nicht anders, ich musste ihn dauernd anschauen. Ich hätte ihn am liebsten dauernd geküsst. Ein verlorenes Kind, Sie können sich das nicht vorstellen. Mir war, als würde ich ihn schon lange kennen. Und wenn der Himmel etwas mit mir vorhat? Warum denn nicht? Dass ich mein Leben gut machen kann, wenn ich diesen Bub unter meine Fittiche nehme. Genau das habe ich gedacht, dafür schäme ich mich nicht. Auf jedes Wort von ihm habe ich gewartet, und ich habe mir jedes Mal gedacht, er sagt genau das Wort, auf das ich gewartet habe. Es war so. Ist das nicht seltsam? Ich habe mir gedacht, das ist ein Wunder. Aber wenn ich in der Nacht aufgewacht bin und an ihn gedacht habe, und das ist oft vorgekommen, dann war es genau umgekehrt. Ich habe gedacht, mir ist nie so ein fremder Mensch begegnet. Ich meine, jemand, in den man so wenig hineinschauen kann. Und er war mir unheimlich, und ich habe mir vorgenommen, dem Emil gleich beim Frühstück zu sagen, dass er ihn nicht mehr trifft, lieber. Aber vierundzwanzig Stunden später war er wieder da und saß mir nachts im Café gegenüber und war höflich, niemand hat je einen höflicheren Menschen gesehen. Er hat mich wie eine Dame behandelt, und wer tut das schon bei jemandem wie mir, und mir ist es wieder nicht anders gegangen, als dass ich ihn am liebsten dauernd geküsst hätte. Ich hätte ihm den Schlüssel zu unserer Wohnung gegeben, wenn er mich gefragt hätte. Alles hätte ich ihm anvertraut, mein Geld, mein Sparbuch, meine Tabletten. Wenn ich ihn anschaue, ist er ein Engel, wenn ich die Augen zumache, ist er ein Teufel. Das geht mir sogar jetzt in diesem Gerichtssaal so. Er ist ein Zwischending zwischen Engel und Teufel.‹ – So weit Frau Pongratz’ Aussage, wie sie vollständig im Protokoll aufgeführt wird.
    Tatsächlich hat Frau Pongratz dem Angeklagten angeboten, bei ihr und ihrem Sohn zu wohnen. Nämlich, nachdem er ihr ins Gesicht hinein, und ohne dabei rot zu werden, gesagt hatte, dass er ein Russe und von seinen Eltern verstoßen worden sei. Er sei den weiten Weg von Russland bis nach Wien zu Fuß gegangen, hat er ihr erzählt, hatte in seinem kindlichen Alter sämtliche Länder beim Namen genannt, Ukraine, Polen, Tschechoslowakei, manchmal habe ihn ein Pferdekarren, manchmal ein russischer Schützenpanzer, ein andermal ein Slowake auf seinem Motorrad mitgenommen. Er habe sich durch den Eisernen Vorhang geschmuggelt und sei schließlich in Wien bei Ägyptern untergetaucht, die illegal in einem leerstehenden Haus wohnten, wo er für Kost und Logis auf die alte Großmutter aufpasse. Ein höchst unwahrscheinliches Szenario, finden Sie nicht auch? Und Frau Pongratz? Ist Sie ihnen als eine naive, leichtgläubige Person erschienen? Mir nicht. Im Gegenteil. Ihre Lebensumstände, will mir scheinen, haben sie zu einem skeptischen, abgeklärten, bisweilen sarkastischen Menschen werden lassen, dem niemand mir nichts, dir nichts etwas vormachen kann. Aber ihm, dem Angeklagten, hat sie geglaubt, alles hat sie ihm geglaubt, die tollsten Geschichten. Warum? Auch sehe ich in ihr nicht eine Person, die ihre Zuneigung allzu leicht verschenkt. In den Angeklagten war sie vom ersten Augenblick an vernarrt. Warum? Der Angeklagte ist ein Lügner, und er ist ein

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