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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Wohlhabende Männer wie Herr Lundin kommen zu uns und lassen uns Anteil nehmen an ihrem Reichtum. Wir können nicht zur Tagesordnung übergehen, wenn ihre Frauen hier bei uns ermordet werden.
    Im Gegensatz zu vielen anderen, heute sogenannten modernen Ländern haben wir die Todesstrafe nicht abgeschafft. Wir sind – ebenfalls im Gegensatz zu vielen anderen, heute sogenannten modernen Ländern – in der Vergangenheit niemals leichtfertig mit diesem Instrument der Durchsetzung von Gerechtigkeit umgegangen. Wie Sie wissen, fand die letzte Hinrichtung im Jahr 1785 statt. Barbara Erni, eine notorische Diebin, wurde mit dem Schwert enthauptet. Die Richter erkannten, dass in dieser Frau das Böse hauste. Und sie wussten, dass das Böse nicht zu beruhigen ist, dass jedes weitere Verbrechen schwerer wiegt als das vorangegangene.
     
    Hohes Gericht, sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr geehrter Herr Verteidiger, meine sehr geehrten Damen und Herren Geschworenen, ich beantrage, wie es das Liechtensteinische Strafgesetz bei Mord zwingend vorschreibt, für den Angeklagten die Todesstrafe, die durch den Strang zu vollziehen ist.«
     

10
     
    Jeden Morgen, wenn ich in den Gerichtssaal geführt wurde, schaute ich nach links hinten. Dort saß Sebastian. Wie hat er das angestellt? Er muss die Schule geschwänzt haben. Wie haben sie ihm das durchgehen lassen? Was hat er sich für eine Entschuldigung geschrieben? Er schaute mich nicht an. Das konnte ich verstehen. Deswegen war ich ihm nicht böse. Er war da, das genügte. Er hatte eine neue, männliche Art, sich zu räuspern. Ich kannte ihn heraus unter allen.
    Und eines Tages war er nicht mehr da. Und am folgenden Tag war er auch nicht da. Und dann, am letzten Tag der Verhandlung, als der Staatsanwalt und der Verteidiger ihre Plädoyers hielten, saß er wieder an seinem Platz. Über dem rechten Auge trug er eine schwarze Klappe. Die schönste Zeit meines Lebens, dachte ich, war der Sommer, als ich den Lukassers geholfen hatte, ihr Haus in der Gemeindegutstraße in Nofels herzurichten; als Sebastian und ich die Nächte hindurch bis zum Morgen miteinander geredet hatten, über alles, auch über Freundschaft. Und wir waren uns einig gewesen, dass wir bereit wären, ein Auge für den anderen zu geben, könnte man damit das Leben des anderen retten. Daran dachte ich, als der Herr Staatsanwalt seine Rede hielt; manchmal drehte ich mich um, sah zwischen den Köpfen der Besucher Sebastians Gesicht mit der Augenbinde und war glücklich.

SECHSTES KAPITEL
     

1
     
    Ich bekam zwölf Jahre. Noch am Tag der Urteilsverkündung wurde ich in einem gepanzerten Wagen in die Schweiz und an deren anderes Ende gefahren. Den Namen der Strafanstalt will ich nicht nennen. Man nahm mir meine Sachen ab, gab mir Graues und sperrte mich in den Keller in eine Einzelzelle. Dort blieb ich einige Tage. Ich habe gezählt, habe mich verzählt und nicht mehr weitergezählt. Man vergaß, mich zu füttern. Zum Verhungern reichte es nicht. Am Ende schlief ich nur. Wusste nichts, als man mich weckte. Ich denke, das ist der glückseligste Schlaf, ja.
    Mir wurde das »Sechserhaus« zugewiesen, ein »interessantes neues Abenteuer«, wie mir der Wärter launig erklärte. Er legte mir Handschellen und Fußschellen an, einen »Hamburger« – wie er mir erklärte –, und dirigierte mich, mit dem Zeigefinger zwischen meine Schulterblätter tippend, vor sich her in den überdachten Innenhof, wo ich für einen Moment so geblendet war, dass ich stolperte – in der Zelle war nur ein Schimmer durch ein zweifaustgroßes Loch gedrungen, von der Sonne am Tag, von den Scheinwerfern in der Nacht –, und schubste mich weiter in den zweiten Stock hinauf zu einer der beiden Galerien rechts und links. Die Stufen und der Boden waren aus Metallgittern, an denen man mit den Sohlen leicht hängen blieb und durch die man nach unten sehen konnte. Zwischen den Stockwerken war ein Drahtnetz gespannt, »gegen die Verzweiflung«, wie mir der Wärter zu seiner Erklärung veranschaulichte, indem er die Arme wie ein Turmspringer ausbreitete und sich über die Brüstung beugte. Eine Zelle reihte sich an die andere. In den Türen klafften Öffnungen mit Klappen, die nun nach außen gekippt waren. Kalter Gestank wehte mir entgegen. Es war Nachmittag, die Zellen waren leer, die Herren seien bei der Arbeit. Das Sechserhaus war die letzte Zelle hier heroben.
    Der Wärter schloss auf, befreite mich von den Fesseln und sagte, ich solle besser nichts

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