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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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gekommen, um uns zu helfen – so meine Einschätzung –, und wenn einer von uns zu weinen begänne, wäre das für sie nur ein weiterer Beweis, dass wir ihre Hilfe benötigten.
    »Was muss ich tun?«, fragte ich.
    »Nur ein paar Fragen beantworten«, sagte der Mann.
    »Nein, nein«, unterbrach ihn die Frau hastig, »eben nicht! Wir wollen uns ein wenig mit dir unterhalten. Mehr nicht. Versprochen.«
    Moma drängte die Frau beiseite und stellte sich vor mich. »Er ist bitte ein Kind«, sagte sie.
    »Eben«, sagte die Frau, »eben«, und nun zitterte ihre Stimme. Und ihr glaubte ich.
    »Ich will es«, sagte ich zu Moma. »Aber nur, wenn du nicht dabei bist.«
    Moma stellte uns ihr Arbeitszimmer zur Verfügung. Der Mann staunte, weil hier noch mehr Bücher seien als im Salon, und begutachtete interessiert das russische Perlmuttmesser, das als Brieföffner diente. Aber wieder tat er nur so. Bücher bedeuteten ihm nichts und schöne Dinge ebenso wenig. Er wollte, dass ich Vertrauen zu ihm gewönne, indem er auf eine Gemeinsamkeit außerhalb seiner und meiner Person verwies, nämlich auf die vielen Bücher und sein Staunen darüber und meinen Stolz darauf. Wie leicht war es, ihn zu durchschauen! Ich lächelte, wusste, dass ihn, der von den beiden der Verschlossene und Ehrliche war, dieses Lächeln rühren würde – bisher war mir niemand begegnet, dem es nicht ähnlich ergangen wäre, jedenfalls nicht, wenn ich es darauf abgesehen hatte –; ich lächelte und sagte, Moma würde ihm sicher gern eines ausleihen, wenn er sie fragte. Und nun kippten der Frau die Tränen über die Lider.
    Die beiden stellten sich mir vor, der Mann mit einer kleinen Verbeugung sogar; die Namen vergaß ich gleich wieder. Sie waren Beamte der Államvédelmi Hatóság, der Staatsschutzabteilung unserer Staatspolizei, welche, wie sie beteuerten, seit einiger Zeit eine fast durch und durch andere sei, eine nämlich, die ihren Namen wirklich verdiene, eine Organisation zum Schutz der Bürger, und die bald auch umbenannt würde, weil die ÁVH und die ÁVO bei den Menschen mit Recht keinen guten Ruf mehr hätten – dafür trügen einige wenige Verbrecher die Verantwortung, und die würden auch zur Verantwortung gezogen.
    Die Frau führte das Verhör – eben, weil sie sich für sensibler hielt als ihren Kollegen und deshalb eine Chance bestünde, mich im Glauben zu wiegen, dass es sich nicht um ein Verhör handelte. Trotz ihrer echten Tränen – nein, ihr war nicht viel an mir gelegen. Sie wollte heimzahlen. Irgendwelchen Leuten wollte sie heimzahlen. Aber sie wollte oder konnte sich selbst nicht eingestehen, dass dies ihr Motiv war. Also brauchte sie einen Grund, der ihren Hass rechtfertigte. Ich war der Grund. Mir war etwas Böses angetan worden. Einem dreieinhalbjährigen Kind war dieses große Böse angetan worden! Das konnte nur mit etwas anderem Bösen in Ordnung gebracht werden. Dazu benötigte sie meine Hilfe. Die wollte ich ihr nicht versagen.
    »Erinnerst du dich daran?«
    »Woran?«
    »Wie sagst du selbst dazu?«
    »Wozu?«
    »Zu dem, was dir passiert ist.«
    »Weiß nicht.«
    »Du warst dreieinhalb Jahre alt?«
    »Stimmt.«
    »Also erinnerst du dich doch?«
    »Ja.«
    »Das ist ungewöhnlich, weißt du das? Die meisten Menschen erinnern sich nicht so weit zurück.«
    »Ich schon.«
    »Und warum, glaubst du, kannst du das?«
    »Weiß nicht.«
    »Wirklich nicht?«
    »Weiß nicht.«
    »Vielleicht, weil etwas sehr Schlimmes mit dir geschehen ist?«
    »Weiß nicht.«
    »Ist es so?«
    »Kann sein.«
    »Ist es so?«
    »Ja.«
    »Möchtest du mit uns darüber sprechen?«
    »Weiß nicht.«
    »Ist es dir lieber, wenn ich dir Fragen stelle?«
    »Ja.«
    »Du bist fünf Tage und vier Nächte allein in dieser Wohnung gewesen. Stimmt das?«
    »Ja.«
    »Was hast du die ganze Zeit gemacht?«
    »Nichts Besonderes.«
    »Hast du gespielt?«
    »Ja.«
    »Die ganze Zeit gespielt?«
    »Ja.«
    »War das nicht langweilig, die ganze Zeit allein zu spielen?«
    »Nicht die ganze Zeit war es langweilig.«
    »Was heißt das?«
    »Hab nicht nur gespielt.«
    »Was weiter?«
    »Weiß nicht.«
    »Immer, wenn du ›Weiß nicht‹ sagst, weiß ich, dass du es doch weißt.«
    »Hab nicht nur gespielt.«
    »Nicht nur allein gespielt, meinst du?«
    »Ja.«
    »Mit wem hast du gespielt?«
    »Weiß nicht.«
    »Mit Puppen?«
    »Nein.«
    »Womit hast du gespielt?«
    Ich antwortete nicht. Mir fiel nichts ein. Ich starrte in den Parkettboden und rührte mich nicht.
    »Hast du

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