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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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lieber zu Hause bleiben und sich ein bisschen hinlegen. Und da sagte ich ohne jedes Bedauern: »Ich auch.« Und niemand tadelte mich oder wunderte sich auch nur, man konnte mich verstehen; die Familie hatte ihn ebenso ins Herz geschlossen wie ich. Moma und meine Mutter und auch Opa wären ebenfalls viel lieber zu Hause geblieben; aber es war notwendig, dass Opa ab und zu nach draußen ging, es war Pflicht sogar – hinaus in die frische Luft und ein bisschen unter die Leute, um kleine Gespräche mit Passanten zu führen, über Belanglosigkeiten, das Wetter, die Tauben, die Oper, falls sich einer fände, der sich dafür interessierte, und so weiter. Man müsse viel Geduld mit Opa haben, hatte Dr. Balázs gesagt. Die Geduld dauerte nun schon zwei Jahre.
    Ich hatte an diesem Nachmittag also meinen Vater für mich allein. Er legte sich auf die Ottomane und sah mir zu, wie ich auf dem Fußboden saß, mitten in den sorgfältig um mich herum sortierten Teilen, und eine Reihe eiserner Lochleisten erst miteinander, dann mit vier roten Bodenplatten verschraubte und mit Achsen und Rollen und Kurbeln versah. Ich hatte mir einen Plan für einen Kran ausgedacht und mit ihm diskutiert. Er zeigte mir, ohne die Füße vom Rauchertischchen zu nehmen, wie ein Flaschenzug aufgefädelt wurde; wie man eine Beilegscheibe mit Hilfe von zwei Zangen verbiegt, so dass sie wie eine Feder wirkt, was die Mutter daran hinderte, sich im Gewinde zu lockern; und führte mir vor, wie der Graphitabrieb eines Bleistifts bewirkte, dass sich die Rollen auf den Achsen bewegten, als drehten sie sich auf Luft. Kritik aus seinem Mund regte mich mehr an als Lob von wem auch immer. Er versuchte nicht, mir etwas einzureden, und er lobte nicht, was ich selbst nicht als lobenswert erachtete. Er gab mir das Gefühl, ich arbeite an etwas wirklich Großem – nicht in einem kindlichen Sinn, dass irgendwann irgendetwas Großes aus mir werden würde, wenn ich nur selbst daran glaubte, oder ähnliche, im Grunde beleidigende, weil nur dahergeredete und nicht zu belegende Vertrauensvorschüsse; sondern als die nüchterne Einschätzung, mein Spielzeugkran könnte eines Tages als Modell für einen wirklichen Kran dienen.
    Mein Vater war der oberflächlichste Mensch, der mir je begegnet ist – oberflächlich in einer weltfreundlich phänomenologischen Ausdeutung: dass er den konkreten Erscheinungen mehr Rechte und größere Attraktivität zusprach als irgendein abstrakter Sinn, der angeblich darunter verborgen liege. Ich wusste nicht einmal, ob er meine Liebe und meine Begeisterung erwiderte; er war nie zärtlich zu mir gewesen, jedenfalls nicht in einem geläufigen Sinn, dass er mich umarmte oder küsste oder liebe Worte an mich richtete. Ich vermisste es auch nicht.
    Er kochte uns aus einem Suppenwürfel eine Kanne Brühe auf – auch an die Würfel war er über »Kanäle« gekommen –, goss ein Glas Weißwein dazu, und wir schlürften das Gute aus Teetassen, tunkten Weißbrot ein, das wir auf dem Herd über der Gasflamme rösteten, und er erzählte mir von einem Pferd, das vor fünfzig Jahren in Berlin großes Aufsehen erregt hatte, weil es zählen und rechnen konnte; die Ergebnisse habe es mit Hufschlägen oder Wiehern mitgeteilt. Erst habe man geglaubt, der Besitzer habe das Tier lediglich stur abgerichtet und verständige sich mit ihm über geheime Zeichen. Aber das Pferd – es wurde der »Kluge Hans« genannt – habe auch zählen und rechnen können, wenn sein Besitzer nicht anwesend war. Im Weiteren habe man jedoch herausgefunden, dass es eine Frage nur beantworten konnte, wenn der Fragesteller selbst die Antwort kannte. Wenn ein Kind, das nicht rechnen gelernt hatte, gefragt habe, was sieben und acht sei, habe sich das Pferd nicht geregt. Ein junger Wissenschaftler habe schließlich die Lösung entdeckt: Das Pferd erkannte die Antwort in der Frage. Wenn einer eine Frage stellt, zeigt er unbewusst durch winzigste Zeichen in Mimik und Gestik die Antwort an. Das Pferd sei also gar kein guter Rechner, sondern ein guter Psychologe gewesen. Wenn wir diese Fähigkeit erlernten, sagte mein Vater, könnten wir es im Leben weit bringen. Ich denke, er hat dabei mehr zu sich selbst gesprochen, als dass er seinem Sohn etwas mitgeben wollte – er war erst fünfundzwanzig Jahre alt.
    Aber er hat mir ja etwas mitgegeben: dass es bei der Beantwortung einer Frage nicht darauf ankommt, die Wahrheit zu sagen, als viel mehr, den Frager in Erstaunen zu versetzen, indem man genau das

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