Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
sagt, was er hören will .
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Meine Ambition ist es, Ihnen nicht nur mein Leben zu erzählen, sondern auch die eine oder andere Maxime vorzustellen, die ich zur Bewältigung desselben gewonnen habe; und weil ich die Lüge als Überschrift zu meiner Existenz wähle – wählen muss, will ich meine sechzig Jahre auf einen Begriff bringen –, möchte ich einige Anleitungen zu deren praktischer Anwendung in meine Biographie einstreuen.
Ich habe das am Ende des vorangegangenen Abschnitts formulierte, erste Gebot meines Lügendekalogs inzwischen schon sehr oft zur Anwendung gebracht; ich bin zu einem Experten auf dem Gebiet der manipulativen nonverbalen Kommunikation geworden. Anders ausgedrückt: Ich durchschaue die Wünsche der Menschen, vor allem jene, die sie vor sich selbst nicht zugeben, und kann ihre Einstellung zu mir steuern, indem ich sie erfülle oder nicht erfülle, je nachdem, ob mir ihre Zuneigung günstig oder ungünstig erscheint. Ich habe für diese Art der Psychologie Talent; ich beobachtete später Mitschüler und Lehrer, lernte schnell und lenkte sie nach meinen kleinen Bedürfnissen; meine Beliebtheit wuchs, meine Noten verbesserten sich, bis sie die besten der Klasse waren.
Mein Gesellenstück allerdings lieferte ich bereits wenige Monate später ab.
Es war ein Sonntag Ende März. Ich war mit Moma und Opa allein, meine Eltern waren mit Freunden, die ein Auto besaßen, ins Grüne gefahren. Es klingelte an der Tür. Moma und Opa sahen einander an. Als es zum zweiten Mal klingelte, sagte Moma, ich solle in Mamas Zimmer warten. Ich ließ die Tür einen Spalt weit offen und lauschte. Ich hörte eine Männerstimme und eine Frauenstimme und hörte, dass Moma sehr aufgeregt war – und hörte immer wieder meinen Namen. Ich ahnte, worum es ging: um meine fünf Tage und vier Nächte. Nach einer Weile verabschiedeten sich der Mann und die Frau. Da trat ich ihnen entgegen.
»Du bist ja hier!«, rief die Frau aus und streckte mir die Hand entgegen wie einem Freund, die Ellbogen durchgestreckt, die Handfläche ebenso – neckisch, kindisch, schlau. Sie war nicht älter als meine Mutter, sah ihr sogar ähnlich, das Blondhaar ähnlich aufgesteckt. Ich fand, sie hatte ein freundliches Gesicht. Das versuchte sie – ich vermutete, wegen ihres Kollegen – hinter einem rechtschaffenen Eifer zu verbergen, den sie wiederum mit Freundlichkeit überspielte, einer anderen Freundlichkeit aber, einer kalkulierten, die nur für mich gedacht war und durch die Eifer und Rechtschaffenheit hindurchschimmern sollten. Was für eine Lust, sie zu beobachten! Sie hielt meine Hand lange fest und nickte. Sie wusste einiges. Alles wusste niemand.
Der Mann war älter, er hatte eine fette Brille im Gesicht und einen Schnauzbart und trug eine Aktenmappe unter dem Arm. Er reichte mir die Hand nicht. Im Vergleich zu seiner Kollegin gab er wenig her.
»Deine Großmutter möchte nicht, dass du mit uns sprichst«, sagte die Frau. »Dafür haben wir großes Verständnis. Wenn du das auch nicht möchtest, gehen wir, und es geschieht sonst nichts.« Letzteres war an Moma gerichtet, die in der Tür zum Salon stand.
»Wir wollen, dass etwas in Ordnung gebracht wird«, sagte der Mann und sah mich dabei zum ersten Mal an; gemeint war wieder Moma; er tat nur so, als ob er mit mir spräche, wahrscheinlich, weil er das Gleiche ein paar Mal schon zu Moma gesagt hatte und nicht einer sein wollte, der immer das Gleiche zur gleichen Person sagt.
Ich war sehr interessiert. »Wollen Sie mich verhören?«, fragte ich.
»Um Gottes willen, nein!«, rief die Frau aus; und wie sie es rief, wusste ich, Moma hatte ihr die gleiche Frage gestellt. »Um Gottes willen, nein«, sagte sie noch einmal und ging vor mir in die Hocke. Ich war für mein Alter durchaus großgewachsen. Ich spürte, wie sich eine Kälte in mir ausbreitete, die war wie die Kälte im Herzen des Königs der fünf Tage und vier Nächte. Nun nahm mich die Frau an beiden Händen und sah mich fest an, so fest, wie sie es sich vorgenommen hatte. »Dir ist etwas sehr Böses zugestoßen«, sagte sie leise, so leise, wie sie es sich vorgenommen hatte, »und wir wollen, dass die Männer, die daran Schuld haben, bestraft werden.«
»Lassen Sie uns bitte einfach in Ruhe«, flehte Moma. Ihre Stimme zitterte. Aber ich glaubte ihr nicht. Ich glaubte nicht, dass sie gleich weinen würde. Sie wollte bluffen. Ich fand es keine gute Methode, den Mann und die Frau loszuwerden. Die beiden waren
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