Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Eine Sekunde überlegte ich. Dann lächelte ich und verneigte mich und stellte mich vor. Die Hand streckte ich nicht aus. Es wäre sein Privileg gewesen. Es war genau genommen nur der Gedanke einer Verneigung, gerade ein Heben und Senken der Augenlider und ein Versteifen des Nackens, keine Geste der Unterwürfigkeit, keine Schleimerei; er sollte auf eine innere, mir womöglich gar nicht bewusste, auf keinen Fall aber berechnende Erregung von Sympathie schließen. Um ihn auf diesen Gedanken zu lenken, atmete ich hörbar ein, aber nicht in einem Zug, sondern von einem Stocken unterbrochen, das als ein Seufzen verstanden werden konnte, und zwar als ein kindliches Seufzen, ausgelöst durch den Anblick des Vaters. Der, dachte ich, der ist ein Mann, der ein Leben lang gewohnt war, auf seine Mitmenschen und deren innere Vorgänge, ihre Instinkte und Affekte zu achten, weil sie trotz seiner monumentalen Erscheinung seine Kraft unterschätzten und sich, manche sogar wegen seiner monumentalen Erscheinung, zu Unüberlegtem hinreißen ließen; ein solcher Mann, dachte ich, hat gewiss – wie das Berliner Pferd mit dem Namen der »Kluge Hans«, von dem mir mein Vater erzählt hatte – eine sondergleichen hohe Lesefähigkeit von Körpersprache ausgebildet, so dass ich erwarten darf, er wird meine Reaktion auf sein Starren, gerade weil sie minimal gehalten war, richtig deuten; nämlich, wie ich es beabsichtige: als innere, unbewusste Erregung von Sympathie.
Er antwortete mit einem Lächeln, das seinerseits nur der Gedanke eines Lächelns war. Er sagte: »Also sind wir jetzt komplett. Und brauchen den sechsten Stuhl.«
Er wies mir das Bett unter dem Adlatus zu.
Er sah, dass ich Hunger hatte, und legte den anderen nahe, mir ein Viertel ihres Abendessens zu überlassen. Es gab zwei gebratene Knödelscheiben mit Kohlrabigemüse in Mehlsoße, dazu Mischbrot mit Margarine und Salz, zu trinken Wasser mit ein bisschen Himbeersaft. Als ich immer noch nicht satt war, schenkte mir Quique Jiménez, auch in Dissis Namen, alle Kägi-fretti , und der Italiano spendierte mir eine halbe Tafel Suchard Mocca , und der Zellenvater teilte mit mir die Banane, die er vor kurzem vom Direktor persönlich zu seinem fünfundfünfzigsten Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
Der Adlatus gab mir eine von den Zigaretten, die ihm der Italiano gedreht hatte, widerwillig und erst auf einen zweiten Blick des Zellenvaters hin. Nach einem weiteren zweiten Blick schob er den Tisch unter das Fenster, legte Zeitungspapier darüber, und ich stieg hinauf, in Socken, um zum Fenster hinaus zu rauchen. Der Zellenvater fragte den Adlatus, ob er denn nicht mit mir gemeinsam rauchen wolle. Der schüttelte nur den Kopf und wurde wieder rot. Quique Jiménez stellte sich zu mir. Mehr als zwei Zigaretten auf einmal durften pro Stunde in der Zelle nicht geraucht werden. Und geraucht werden durfte nur auf dem Tisch und zum Fenster hinaus. Das war nicht Hausordnung nach dem Direktor, sondern Zellenordnung nach dem Zellenvater.
Der Adlatus nannte ihn »Boss« – was aber klang wie »Oss« oder »Hoss« oder gar nur »Hss«. Der Italiano und die Spanier sagten »Vater« zu ihm. Wenn wir in seiner Abwesenheit über ihn redeten, war er für uns, auch für den Adlatus, »der Zellenvater« oder »der liebe Zellenvater«. Nichts ironisch Gemeintes war dabei.
Alle Welt wusste, ein Angriff auf diesen Mann würde für den Angreifer verheerend enden, und er selbst wusste das auch. In seiner Gunst zu stehen bedeutete, den sichersten Platz in diesem Teil der Welt einzunehmen. Ich wollte in der Nähe des Zellenvaters sein – nicht nur in der Zelle, sondern auch tagsüber bei der Arbeit.
In der Anstalt waren eine Großküche, eine Gärtnerei und eine Bäckerei untergebracht, weiters Wäscherei, Schneiderei, Schlosserei, Tischlerei, dieser angeschlossen ein Atelier, in dem altes Kinderspielzeug, das aus der gesamten Schweiz einlangte, renoviert wurde, und die Kfz-Werkstatt. Der Zellenvater war ein Gerechter, wollte es, musste es sein, vor uns, vor dem Direktor, vor der Anstalt, gewiss aber vor sich selbst. Jiménez hatte mich über die Macht des Zellenvaters aufgeklärt, dass er einen großen Einfluss darauf habe, wer welcher, vor allem wer seiner Abteilung zugewiesen werden sollte. Der Direktor berate sich mit ihm, und was die Werkstatt betreffe, habe er bisher nie gegen den Zellenvater entschieden.
Ohne Zweifel verstand der Italiano mehr von Autos als ich. Dennoch rechnete ich mir
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