Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
den Rauch aus den Nasenlöchern, schwenkte den Kopf wie einen Weihrauchkessel von links nach rechts und brummte ein Lied, ich vermutete ein Kirchenlied. Das war lustig.
Die Woche war nicht lustig. Nicht, weil ich daran zweifelte, ob ich tatsächlich zum Zellenvater in die Werkstatt versetzt würde, sondern wegen der Langeweile. Und an der war einer schuld.
Jeden Morgen, bevor er die Zelle verließ, nahm der Adlatus heimlich die Batterien aus dem Radio und steckte sie am Abend, wenn er zurückkehrte, heimlich wieder zurück – heimlich nicht vor mir, sondern vor dem Zellenvater und den anderen. Ich fragte ihn: »Warum tust du das? Was hast du davon, wenn ich vor Langeweile verrückt werde? Würde ich dir die Batterien wegnehmen?« Und antwortete mir selber: »Nein, würde ich nicht.« Er sagte nichts. Zog nur den Mundwinkel über die Stockzähne.
Acht Stunden war ich in der Zelle allein. Der Italiano, der Zellenvater und der Adlatus aßen im Gemeinschaftsraum des Fünfertrakts zu Mittag, die Spanier, weil schönes Wetter war, draußen bei den Feldern. Ich versuchte es mit Schlafen und schlief eine Stunde. Versuchte es mit Gehen, schritt fünf Beinwechsel von der Tür zum Fenster, fünf Beinwechsel vom Fenster zur Tür, und das zweihundert Mal. Ich konnte mich nicht gegen das Zählen wehren. Zählte sogar die Atemzüge. Ich dehnte den Expander zwanzigmal vor der Brust und zwanzigmal hinter dem Nacken, ich legte mich auf den Rücken und stemmte die Hantel, zehnmal mit der Linken, zehnmal mit der Rechten. Ich kletterte auf das Bett von Quique Jiménez, spreizte mich, wie er es tat, mit Händen und Füßen in den Metallrahmen und stemmte dreißig Liegestütze. Ich versuchte mich zu erinnern, wie es während der Untersuchungshaft gewesen war, als ich noch kein Radio besessen hatte. Manchmal war ich vierundzwanzig Stunden hintereinander allein gewesen. Und das hatte mich nicht gestört. Es war sogar vorgekommen, dass es mir unangenehm und lästig war, wenn sich Herr Andreas zu mir setzte, um mir etwas Zeit abzunehmen, wie er sich ausdrückte, oder wenn ich zu den Wärtern in ihr Zimmer eingeladen wurde, um mit ihnen einen Kaffee zu trinken und eine Zigarette zu rauchen. Als wäre ich die gesamte Strecke von vierundzwanzig Stunden in eine Tätigkeit vertieft, die unteilbare Konzentration beanspruchte, so hatte ich mich gefühlt. Derweil ich in Wahrheit nichts tat. Nicht einmal bewegt hatte ich mich. War auf dem schmalen Bett gesessen, ohne mich an der Wand anzulehnen. Eine mönchische Gleichgültigkeit war in mir gewesen, ich war frei gewesen von allem, vor allem von der Erfahrung der Zeit. Am Anfang war mir Frau Lundins Gesicht erschienen, unbeweglich wie auf einer Fotografie, festgehalten in jenem Moment, als sie begriff, dass ich die Waffe nicht einfach nur auf sie richtete, sondern dass ich abdrücken würde. Irgendwann hatte mich ihr Bild zum letzten Mal besucht, und ich war auf meinem Bett gesessen, frei, ohne Gedanken, auch ohne Gedanken an Mama und Papa und Moma und Opa. Vergangenheit und Zukunft waren kleiner geworden, ihre Horizonte waren einander näher gerückt, bis sie von der Gegenwart, dem schwarzen Loch mitten in der Zeit, verschluckt worden waren. – Ich versuchte, mich in diesen Zustand zu versetzen. Es gelang mir nicht.
»Warum tust du mir das an?«, fragte ich den Adlatus am Abend. »Du schenkst mir Zigaretten von deinen guten, die die besten sind, die es gibt, warum nimmst du mir die Batterien weg?«
Er grinste nur.
Am nächsten Morgen probierte ich es anders. »Warum tust du das, Niculin?«, fragte ich. Natürlich war es Berechnung, seinen Vornamen auszusprechen. Das hatte niemand getan, seit ich in dieser Zelle war, jedenfalls nicht in meiner Anwesenheit, und ich würde den Namen wahrscheinlich vergessen haben, wenn ich ihn nicht in mein Heft geschrieben hätte.
Seine Reaktion auf den Klang seines eigenen Namens war erschütternd. Er weinte. Still. Das Augenwasser überschwemmte seine Wangen, und seine übertrainierten, knotigen Schultern bebten. Er blickte sich rasch um, ergriff meine Hände und küsste sie.
»He, Niculin!«, sagte ich. »Niculin, gibst du mir jetzt die Batterien?«
Er lächelte wie das hässlichste glückliche Kind und sagte nun doch etwas. Es hörte sich an wie: »Säbitschä!«
Dass ich ihn nicht verstanden hätte, sagte ich. »Niculin, sag’s noch einmal! Noch einmal, Niculin!«
»Sä bitschä! Säg bittschö!«
Ich glaubte, er meine »Sag bittschön!«, also sagte
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