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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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verrückt.
    Verrückt erlebte ich ihn bald. Es war knapp vor Arbeitsschluss, ich saß allein in der Zelle, weil mir bisher keine Tätigkeit zugeteilt worden war, da kam ein Wärter und sagte, ich würde jetzt für eine Viertelstunde verlegt. Ich fragte, warum. Er sagte, darauf brauche er mir keine Antwort zu geben. Er brachte mich nach draußen, richtete mir grob den Kopf, damit ich nur geradeaus sehen konnte, und führte mich in eine leere Einzelzelle. So gerade hatte er mir den Kopf aber nicht richten können, dass ich nicht in einem schnellen Blick den Adlatus und den Italiano gesehen hätte, die in unsere Zelle geschlüpft waren, ehe der Wärter mit dem Fuß die Tür ins Schloss geworfen hatte. Als wir am Abend beieinander waren, redete der Adlatus in einem fort, verhaspelte sich an den seltsamen Krachlauten seiner Sprache, trank alle paar Minuten aus dem Wasserhahn und fing mit Jiménez einen Streit an, aus dem bestimmt eine Schlägerei geworden wäre, hätte der Zellenvater nicht ein Machtwort gesprochen. Dem Zellenvater habe er sich untergeordnet, als einzigem, eben wie einem Vater.
    Mit dreizehn Jahren, erzählte der Direktor weiter, seien dem Adlatus an einem einzigen Tag »Mama und Täta« weggestorben, das dürfe man nicht vergessen; sie hätten sich ein Auto gekauft – wozu nur! –, und bei ihrem ersten Ausflug durch die Via Mala seien sie von der Straße abgekommen und in die Schlucht gestürzt. Da sei er von seinen Bergen herabgestiegen und gleich weitermarschiert durch die Schweiz hindurch und nach Frankreich hinunter. In Marseille habe er zum ersten Mal wieder den Mund aufgemacht und es gleich mit der Polizei zu tun bekommen, weil er in einen Lebensmittelladen eingebrochen war. Nach Abschiebung und Verbüßung seiner Strafe sei er abermals losgezogen, habe ein paar Jahre in Algerien gelebt und dort für Lohn Leuten, die nicht zahlen wollten, die Finger geknickt. Dieser Mann habe immer einem gedient und viele geschlagen; dem Vater habe er gedient, die Geschwister habe er geschlagen; den Kreditoren habe er gedient, die Debitoren habe er geschlagen.
    Getötet hatte der Adlatus niemanden, er als einziger im Sechserhaus.
    »Aber wenn ich ehrlich bin«, räumte der Direktor ein, »war stets damit zu rechnen gewesen. Wie bei vielen, denen ich hier begegnet bin, ein Zufall schuld war, dass sie jemanden getötet haben, war bei ihm der Zufall schuld, dass er nicht längst zum Mörder geworden war.«
     
    Dass hingegen der Zellenvater zum Mörder geworden war, sei noch nicht einmal ein Zufall gewesen, sondern habe allein mit dessen Physiologie zu tun. Der Zellenvater sei in jeder Beziehung ein Opfer seines eigenen Körpers gewesen.
     

3
     
    Er war zwei Meter groß, hatte einen Kopf, auf den ein gewöhnlicher Hut nicht passte, und wer diesen Kopf – zum Beispiel zum Zweck eines Schwitzkastens – umfassen wollte, brauchte weit Platz bis in beide Arme hinauf. Das Haar wuchs wild, und die Augen waren blau. Ein Bauch prallte unter seiner Brust, die war zusammengesetzt aus zwei grau behaarten Muskelplatten. Das Hemd trug er offen bis zum Nabel. Hals hatte er kaum. Hinter einer seiner Hände hätte er zwei unserer Gesichter verbergen können. Seine Oberarme sprengten die standardisierten Anstaltshemden und Anstaltsjacken; in der anstaltseigenen Schneiderei wurden Sondergrößen nur für diesen einen Mann zusammengenäht. Unter der Haut seiner Schultern und seines Nackens bäumten sich bei den simpelsten Bewegungen, dem Abtropfen eines Teebeutels oder beim Zähneputzen, die Muskeln auf, als kröchen Raubtiere über das Skelett. Er war ausgebildeter Automechaniker und leitete die Kfz-Werkstatt des Gefängnisses. Der Adlatus war dort einer seiner Untergebenen. Es ging die Sage, der Zellenvater habe dessen Leben gerettet, als er einen LKW, der schlecht aufgebockt war und zur Seite kippte, so lange gehalten habe, bis der Adlatus unter dem Laster hervorgekrochen sei. Anschließend hätten in Anwesenheit des Direktors zehn Mann das Gleiche versucht, seien aber gescheitert. Seither habe ein »besonderes Verhältnis« zwischen dem Adlatus und dem Zellenvater bestanden, was ihn – rechtfertigte sich vor mir der Direktor – schließlich auch dazu bewogen habe, die beiden in eine Zelle zu verlegen, als Kern der Familie sozusagen.
    Der Zellenvater stand in der Tür, atmete schwer, starrte mir gerade ins Gesicht und wartete, dass ich auf sein Starren reagierte. Er wollte mir die Chance geben, mich vor ihm zu präsentieren.

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