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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Schiffsmodelle ausgestellt waren, ein Sekretär, auf dem ein alter Globus thronte, an den Wänden alte Landkarten, ein zweiter Glasschrank voll mit Büchern, deren Rücken die gleiche Farbe hatten wie der Whisky in den Gläsern des Zellenvaters und des Direktors. Der Direktor hatte einen gestutzten blonden Vollbart, einen aufgezwirbelten Schnauzer und eine von der Frühlingssonne rot gebrannte Stirn. Seine Stimme war ein tiefer Bass, der mich an einen Nachrichtensprecher von AFN Frankfurt erinnerte, dem ich im Gefängnis in Liechtenstein gern zugehört hatte, leider ohne ihn zu verstehen. Dass ich Gymnasiast gewesen war, beeindruckte ihn. Ob ich Griechisch und Latein gelernt hätte, fragte er. »Ja, Herr Direktor«, antwortete ich, wie mir der Zellenvater eingeschärft hatte. Ob wir den Ovid gelesen hätten. Ich sagte die üblichen Verse aus den Metamorphosen auf: »Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo, sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat …« Er stimmte mit ein. Ob wir den Homer gelesen hätten. Ich sagte den Anfang der Ilias auf: »Μῆνιν ἄειδε, θεά, Πηληϊάδεω Ἀχιλῆος οὐλομένην, ἣ μυρί‘ Ἀχαιοῖς ἄλγε‘ ἔθηκε …« Er stimmte mit ein.
    Der Zellenvater war stolz, als wäre ich tatsächlich sein Sohn. Und der Direktor fasste Mut, weiter daran zu glauben, dass im Sechserhaus eine Familie entstehe. Ich tat diesen beiden Männern gut.
    Als wir in unsere Zelle zurückgebracht wurden, sagte der Zellenvater zu mir: »Halt dich an mich, Andres. Wenn etwas ist, sag es mir und sonst niemandem. Und schluck nichts, wenn dir einer etwas anbietet.«
    »Was soll ich nicht schlucken?«, fragte ich.
    »Und wenn dir einer zu nahe kommt, sag es mir, soll er es spüren.«
    »Was heißt ›zu nahe kommt‹?«, fragte ich.
    Beide Fragen beantwortete er nicht.
    »Und wenn du in der Nacht den Elenden kriegst, den jeder hie und da kriegt, ich auch, dann brauchst du dich nicht zu schämen. Wir schauen, dass wir dich irgendwie in der Berufsschule anmelden können. Willst du das?«
    »Ja, Vater«, sagte ich.
     

4
     
    Das Transistorradio hatte der Zellenvater ohne großen Dank als Geschenk angenommen. Die Wärter lieferten ihm Batterien. Als Gegenleistung erwarteten sie sich sein gutes Wort beim Direktor. Das Radio wurde gleich zum wichtigsten Gegenstand in unserer Zelle. Es stand mitten auf dem Tisch, die Teller beim Abendbrot und Frühstück gruppierten sich darum herum. Wir hörten Wunschkonzerte und Nachrichten. Vor allem Nachrichten, jede Stunde Nachrichten; auf allen Sendern, die wir kriegen konnten: Nachrichten auf Deutsch, Nachrichten auf Spanisch, die hat uns Quique Jiménez, Nachrichten auf Italienisch und Französisch, die hat uns der Italiano übersetzt. Und über jede Meldung haben wir diskutiert; kaum hatte jeder von uns seine Meinung abgegeben, war schon eine Stunde vergangen, und die nächsten Nachrichten lieferten neuen Stoff. Wir erfuhren – und ich habe es in mein Heft notiert –, dass ein Schweizer Flugzeug einen Berg in Zypern gerammt hatte, wobei 126 Menschen ums Leben gekommen waren; dass die Amerikaner Muhammad Ali den Weltmeistertitel aberkannt hatten und er wegen Wehrdienstverweigerung zu fünf Jahren Gefängnis und 10.000 Dollar Strafe verurteilt worden war; dass ein Arzt aus Südafrika einem Mann namens Louis Washkansky das kranke Herz herausgeschnitten und ihm dafür das gesunde Herz eines Mannes namens Denise Darvall eingenäht hatte, der bei einem Autounfall tödlich verunglückt war; dass der arabisch-israelische Krieg nur sechs Tage gedauert und mit einer erbärmlichen Niederlage Jordaniens, Ägyptens und Syriens geendet hatte. Und wir erfuhren, dass nun endlich und endgültig festgelegt worden war, wie lange eine Sekunde dauert: genau so lange wie die Zeit, in der von heißem Cäsium ausgesandte Mikrowellen 9.192.631.770 Mal schwingen.
     
    Es dauerte Sekunde für Sekunde doch noch eine lange Woche, bis ich endlich zur Arbeit zugelassen wurde. Quique Jiménez meinte, dies sei eine Disziplinierungsmaßnahme. Der Direktor sei ein falscher Hund. Er markiere den freundlichen Kumpel, schiebe die Sauereien den Wärtern zu, und was positiv sei, ziehe er auf sich. Wir sollten nie vergessen, dass der Direktor der liebe Gott sei, und im Unterschied zum Teufel gewähre der liebe Gott eine Bitte niemals sofort. Ich fragte, woher er das wisse. Er antwortete, er sei Spanier und katholisch, klappte die Zigarette in den Mund, blies

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