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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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mein Unwissen als Vorteil an. Der Italiano wollte aus der Wäscherei herauskommen, die feuchte Laugenluft und das niedere Ansehen dieser Abteilung machten ihm zu schaffen. Seine Motivation war, sich zu verbessern. Meine Motivation würde Begeisterung für die Sache sein.
    Ich sagte: »Ich möchte Automechaniker werden.«
    »Das würde jeder gern«, ätzte der Italiano und rückte sich damit noch weiter nach hinten, denn er sah in jedem einen Konkurrenten, und jeder sind viele.
    »Was verstehst du von Autos?«, fragte mich der Zellenvater.
    »Ich habe zu Hause oft an unseren Autos gearbeitet, zusammen mit meinem Vater.«
    »Wie viele Autos habt ihr denn gehabt?«
    »Vier. Nicht auf einmal natürlich. Hintereinander.«
    »Und was für?«
    »Einen Opel Kapitän P 2,6 mit 3-Gang-Hydramatic-Getriebe und Servolenkung. Später einen Ford Taunus 17m Vierzylinder-Viertakt-V-Motor mit Ausgleichswelle. Nach einem Jahr aber schon einen Mercedes Benz W 112 mit Sechszylindermotor, aber den haben alle 112erModelle, im Gegensatz zu den 111ern …«
    »Und der vierte?«
    »Der vierte?« Es war ein Risiko. Aber eigentlich war es keines. »Ein Cadillac Eldorado Biarritz 1959.«
    Einen Augenblick war es sehr still in unserer Zelle.
    »Ho, und das ist jetzt verlogen!«, trumpfte der Italiano auf. »Von dem hat es nur tausenddreihundert Stück gegeben. Und ausgerechnet ihr habt einen gehabt? Ho, also ich frag mich wirklich, warum du in der Tfissen hockst. Wo ich Argent hätte, dass ich mir einen Cadillac Eldorado Biarritz 1959 kaufen könnte, nein, mein Sohn wär nicht hier, das kann ich schwören! Du bist ein abgeputzter verlogener Hund. Wir wollen hier keinen abgeputzten verlogenen Hund.«
    »Ich gebe zu, es war gelogen«, antwortete ich schnell. »Wir haben keinen Cadillac Eldorado Biarritz 1959 gehabt. Aber wir hätten gern einen gehabt.«
    Da lachten alle, jeder auf seine Art und jeder in seiner Absicht. Der Adlatus gab mir einen leichten Stüber und steckte eine seiner Zigaretten in die Brusttasche meines Hemdes. Ein Punkt auch von ihm.
    Der Zellenvater lachte nicht. Er setzte sich und blickte vor sich ins Leere. Ich sah, er spielte Theater. Seine Entscheidung war getroffen. Er wollte sie lediglich mit einem kleinen Melodram rechtfertigen. »Einen Cadillac Eldorado Biarritz 1959 hätte ich auch gerne gehabt«, sagte er.
    »Aber repariert hast du einen, oder?«, fragte ich und legte ein wenig Verzweiflung in meine Stimme, ein Gewürz, nicht mehr, eine süße Brise Verzweiflung.
    »Nein, nie«, sagte er, und es war eine Genugtuung für mich zu hören, dass er meinen Ton aufnahm und wir beide in diesem Moment eine Lügenparade abzogen. »Ich gehöre leider nicht zu den glücklichen Mechanikern, die in ihrem Leben einen Cadillac repariert haben.«
    »Und wenn wir einen in die Werkstatt kriegen? Lieber Gott«, rief ich aus, »lieber Gott, mach, dass es so ist!«
    Das hatte genügt. Dass ich, der jüngste Insasse dieser Anstalt, der sein Sohn hätte sein können, vor ihm, der zwar der »Zellenvater« oder der »Vater« genannt wurde, in Wahrheit aber nicht mehr die Chance haben würde, einen eigenen Sohn zu zeugen, dass ich in Anwesenheit eines Haufens abgebrühter Mörder, Vergewaltiger, Diebe, Zuhälter und Totschläger zum lieben Gott flehte, er möge in eine Gefängniswerkstatt einen Cadillac zum Reparieren schicken – das genügte dem Zellenvater.
    »Mit größerer Begeisterung eines Schülers kann nicht gerechnet werden«, fasste er, nachdem er die Geschichte vor dem Direktor umständlich, aber Wort für Wort nacherzählt hatte, sein Ansuchen, mich in die Werkstatt übernehmen zu dürfen, zusammen. Und beide lachten herzlich. Ich hatte gewonnen. Und war nun beider Liebling.
    Einmal im Monat oder nach Bedarf und Bedürfnis war der Zellenvater beim Direktor in dessen Büro eingeladen. Dort erstattete er Bericht über das Leben im Sechserhaus und in der Werkstatt. Der Direktor hielt den Zellenvater für einen weisen Mann, für eine Art Indianerhäuptling – und der Zellenvater arbeitete mit zur Schau gestellter Bedächtigkeit diesem Bild zu. Das Amerikanische war dem Direktor viel wert und auch anzusehen. Der Zellenvater ließ über einen Wärter anfragen, ob es dem Direktor genehm sei, wenn er bei seinem nächsten Besuch mich mitbrächte. Es war dem Direktor genehm. So saßen der Zellenvater und ich in dem Büro, das wie die Kapitänskajüte eines alten Segelschiffs eingerichtet war – Glasschrank aus rotem Kirschholz, in dem

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