Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Wochenenden, wenn wir zwanzig Stunden in der Zelle waren. Ich hatte nie ein Mädchen gehabt – darunter verstand ich: geküsst. Mehr verstand ich darunter nicht. Ich war sehr neugierig, das gab ich gerne zu. Sie haben mich nicht ausgelacht. Ich erinnere mich an einen gemütlichen Sonntagnachmittag im Herbst, an dem einer nach dem anderen von seiner ersten Berührung einer Frau erzählte, nur um mich zu trösten. Wo doch gar kein Trost nötig war. Der Italiano schwärmte von den Frauenbrüsten, wenn sie einen körnigen Hof hätten und flache Warzen, und dass er es gern habe, wenn man ihnen das Gewicht ansehe. Er steigerte sich hinein und erzählte Szenen, die ihm bald niemand mehr glaubte. Der Zellenvater sagte, für heute sei es genug.
»Wrum dänna!«, brauste der Adlatus auf, und es war das erste Mal, dass ich ein Gegenwort zum Zellenvater von ihm hörte. »Ar ka des so guat. Do isch man mittadri. Und ma heat öppis zum Schtudiera und zum Nochschtudiera.«
Studieren und Nachstudieren seien immer zu begrüßen draußen, drinnen aber nicht, beendete der Zellenvater jedes Reden für diesen Tag.
Beim Frühstück sagte der Adlatus, noch bevor er die anderen zurückgegrüßt hatte, studieren müsse jeder immer, draußen und drinnen, das sei eben so, nämlich Natur.
Wenn ich allein am Abend im Hof saß – die Wärter vergaßen, dass die Ausnahme eigentlich nur für den Sommer gelten sollte (oder vergaßen es nicht), und so genoss ich dieses Privileg über den Herbst und den Winter und weiter in den Frühling hinein –, habe ich wenig nachgedacht, überhaupt wenig gedacht und gar nicht studiert. Aber es waren Empfindungen in mir. Ich glaube, es war, wie es Sebastian ergeht, wenn er eine Musik hört, die er besonders liebt: dass ein großes Weltgebäude in ihm entsteht, eine Kathedrale, er diese aber nicht mit seinen Gedanken erfasst, also Stein für Stein, Spitzbogen für Spitzbogen, sondern in einer einzigen Empfindung, die mit dem gesamten Wortschatz eines Menschen nicht übersetzt werden könnte. In meinen Empfindungen war ich selbst nicht anwesend, es ging nicht um mich. Ich spürte den Abend, ich war der Abend; ich spürte den Flug der Mauersegler, ich war dieser Flug; ich spürte den Föhn vom Süden, ich war der Föhn. Ich habe immer bedauert, dass es mir nicht gelang, Musik zu mögen. Sie war mir immer gleichgültig gewesen. Warum? Jedem Geräusch konnte ich nachspüren, wenn ich mir die Zeit dafür nahm, und ich konnte mich jedem Geräusch anverwandeln; Musik aber blieb mir gleichgültig. Vielleicht, weil sie mit der Absicht gemacht war, nicht gleichgültig zu sein. Musik – dieser Gedanke war mir gekommen, als Sebastian und seine Mutter andächtig still geworden waren und dem Vater zuhörten, wie er auf der Gitarre spielte, obwohl er jeden Abend vor ihnen spielte und sang – Musik war ein Erkennungszeichen der Menschen untereinander. Sie sagte: ›Hörst du? Ich bin hier. Ich bin einer von euch.‹
Am Geburtstag des Direktors gingen die Wachbeamten am Abend nach dem Essen von Zelle zu Zelle und öffneten die Türen, und aus allen Lautsprechern des Hauses ertönte der Gesang einer Frauenstimme. Dissi wusste und teilte es uns über Quique Jiménez mit, dass es Maria Callas war, die eine Arie aus der Oper Norma von Vincenzo Bellini sang. Mir erschien es als unverantwortlich, die Zellen zu öffnen, ich rechnete mit Lärm und Aufstand und fürchtete, dass der Mann, der mir schon zweimal einen Kassiber zugesteckt hatte, auf dem stand, er träume jede Nacht davon, das hübsche Rehlein zu ficken, in unsere Zelle stürmte und dem Zellenvater nichts anderes übrigbliebe, als ihm das Genick zu brechen. Aber es war nichts zu hören außer dem Gesang von Maria Callas und dem Chor, der sie begleitete, und nicht einer hat seine Zelle verlassen. Fünf Minuten spendierte uns der Direktor zu seinem Geburtstag, dann wurden die Zellen wieder geschlossen. Die Folge war, dass Dissi den Rest des Abends die Hände nicht vom Gesicht nahm; ich sah, wie die Tränen zwischen seinen Fingern hindurch und über die Handrücken sickerten. Der Italiano verkroch sich in sein Bett, Quique Jiménez stand auf dem Tisch und rauchte eine nach der anderen zum Fenster hinaus. Der Zellenvater war zu Stein geworden, er saß auf meinem Bett und starrte ins Leere. Und der Adlatus? Und ich? Ich musste an den Staatsanwalt denken und dass er gesagt hatte, ich sei kein Mensch. Damit hatte er mich sehr gekränkt. Und ich hatte mir gedacht, das
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