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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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werde ich ihm irgendwann heimzahlen.
    Am liebsten war mir das Geräusch der Geräuschlosigkeit, das war schon immer so gewesen. Wenn ich im Winter, die schwarze Masse des Fünfertraktes in meinem Rücken, auf das Gespinst des Stacheldrahts über der Mauer sah, das der eben aufgetauchte Vollmond versilberte, brauchte ich nicht die Zeit zu messen, ich war die Zeit.
    Das Ohrenwachs, in ein Stück Papier gewickelt, trug ich immer bei mir. In der Nacht drückte ich es tief in meinen Kopf hinein. Ich bestach den Italiano mit Nussschokolade, die ich gesammelt hatte, und er brachte mir aus der Wäscherei eine Wollmütze mit. Ich schnitt das Kopfteil ab, so dass nur die ringförmige Krause übrig blieb, die stülpte ich mir über die Augen. Ich sah nichts, und ich hörte nichts. Und es war, als hätte ich in den Nächten weit und breit niemanden um mich.
     

6
     
    Das Wachs war ein Produkt der Firma Ohropax . Der Erfinder hätte dafür den Friedensnobelpreis verdient. Der Preis war 1966 nicht verliehen worden und wurde auch 1967 nicht verliehen; angeblich, weil das norwegische Komitee niemanden für würdig genug erachtet hatte, wie wir im Radio hörten. Es gab Leute, die haben die israelischen Kommandanten Mosche Dajan, Jitzchak Rabin und Uzi Narkis für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Der Italiano meinte dagegen, man hätte den Preis Gamal Abdel Nasser verleihen sollen, weil der wenigstens versucht habe, den Juden eines übers Haupt zu braten. Der Adlatus sagte, er sei eindeutig für die Juden, er kenne die Araber, die Araber seien »verreckte Chaiba, gottverreckte«. Wenn er raus sei, das schwöre er, werde er sich freiwillig zur israelischen Armee melden oder zum Mossad. Quique Jiménez sagte: »Die Juden nehmen nur Juden.« »Lass ihn«, beruhigte der Zellenvater. »Er meint es gut. Er will Gutes tun. Er will nur helfen.« Das sagte er oft, wenn der Adlatus streitlustig war. Und zum Thema rief er aus: »Gibt es Krieg und Frieden denn nur in der Politik? Schaut die Kommission denn gar nicht in die wirkliche Welt hinein, in die Häuser, in die Stuben, in den einzelnen Menschen hinein?« Ich bin noch heute davon überzeugt – und der Zellenvater war ebenfalls davon überzeugt –, dass ohne Ohropax in unserer Zelle der Krieg ausgebrochen wäre, und der hätte nicht nur sechs Tage gedauert. Die Theorien des Herrn Direktors in Ehren – aber: Das Gute im Menschen folgt keinem Naturgesetz; es wird vom Menschen gefördert, und zwar ausschließlich, indem das Böse zurückgedrängt wird. Und Ohropax halte ich für einen der wirkungsvollsten Zurückdränger des Bösen; letztlich nicht weniger wirkungsvoll als der französische Diplomat René Cassin, der 1968 den Friedensnobelpreis bekommen hat, nämlich für die Abfassung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, was ohne Zweifel eine großartige Sache war, aber, machen wir uns nichts vor, reine Theorie, während die kleinen, in Watte gepackten rosa Wachskugeln eine tatsächliche Friedenswaffe waren, unkompliziert in der Anwendung und billig.
    Aber der Friede hatte seinen Preis. – Ich plapperte nach, was wir im Radio gehört hatten. Nie wieder habe ich so viel Radio gehört wie zu jener Zeit, das ist wahr, und dieser Satz ist damals oft gefallen: wenn über den Krieg in Vietnam gesprochen wurde oder über die Studentenrevolten in Frankreich und Deutschland oder eben über die Situation im Nahen Osten, nachdem Israel den Gaza-Streifen und die Sinai-Halbinsel von Ägypten, die Golan-Höhen von Syrien und das Westjordanland von Jordanien erobert hatte, oder wenn über die Ermordung von Martin Luther King und Robert Kennedy gesprochen wurde oder über den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten, einschließlich Ungarn, in die Tschechoslowakei, oder wenn es um die atomare Aufrüstung der Supermächte ging, deren katastrophale Folgen auch vor der neutralen Schweiz und somit auch vor unserem Haus nicht haltmachen würden. (Als wäre unser Gefängnis mit den zwei Stacheldrahtzäunen, drei Meter und fünf Meter, und der acht Meter hohen Mauer darum herum eine Idylle. – Was es in gewisser Weise auch war.) »Der Friede hat seinen Preis.« Der Zellenvater hat diesen Satz dem Radio nachgeplappert, und Quique Jiménez hat ihn dem Radio nachgeplappert und ich ebenso. Ich habe ihn lange nicht verstanden.
     
    Irgendwann im November, es regnete seit Tagen – ich erwähne das, weil wir bei offenem Fenster schliefen und der Regen auf das darunterliegende Dach

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