Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Sekunden. 12 Jahre (inkl. Schaltjahre) = 378.777.600 Sekunden. 1 Sekunde = 1000 Millisekunden, 1 Millisekunde = 1000 Mikrosekunden, 1 Mikrosekunde = 1000 Nanosekunden, 1 Nanosekunde = 1000 Pikosekunden, 1 Pikosekunde = 1000 Femtosekunden, 1 Femtosekunde = 1000 Attosekunden, 1 Attosekunde = 10–18 Sekunden = 0,000 000 000 000 000 001 Sekunden. Also hatte ich, vom Beginn an gerechnet, 378.777.600.000.000.000.000.000.000 Attosekunden Haftzeit vor mir. Allerdings hatte sich diese Strecke, während ich den letzten Satz dachte, um ungefähr 30.000.000.000.000.000.000 Attosekunden verringert.
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Die Vormittage waren von nun an meiner Ausbildung gewidmet. Der Zellenvater wählte verschiedene Arbeiten aus, bei denen ich ihm assistieren sollte. Er führte mich in Grundsätzliches ein, zeigte mir an einem Ford, was ein Viertakt-Dieselmotor, und an einem VW Käfer, was ein Boxermotor ist. Eine Kundschaft brachte einen Wagen, dessen Motor sich nicht abstellen ließ, obwohl sie den Zündschlüssel gezogen hatte. Der Motor lief unruhig und stank nach faulen Eiern. Was war geschehen? Die Kundschaft hatte anstatt Benzin Diesel getankt. Dieselmotoren, lernte ich, benötigen keine Zündung, weil sich der Dieselkraftstoff bei hoher Kompression selbst entzündet, weswegen sich der Motor durch Abziehen des Zündschlüssels auch nicht abschalten ließ. Welche Maßnahmen mussten ergriffen werden? Tank leeren und reinigen, Motor mit Benzin durchspülen.
Der Zellenvater erklärte mir jeden Handgriff, und ich hatte seine Worte zu wiederholen. Wenn er eine Zylinderkopfdichtung ausgebaut hatte, baute er sie wieder ein, und ich sollte sie von neuem ausbauen. Wenn ich mich ungeschickt anstellte, baute er sie ein zweites Mal ein und ich sie wieder aus; und das so lange, bis ich es konnte. Ich stellte mich nicht ungeschickt an. Das sagte auch der Adlatus. Das Angenehme an seinem Lob war, dass er es immer in Zigaretten umrechnete. Der Zellenvater besaß ein altes Lehrbuch mit vielen Abbildungen, Europa Lehrmittel: Fachkunde für Kraftfahrzeugmechaniker , das auf manchen Seiten so verdreckt war, dass man kaum die Buchstaben erkennen konnte. Ich lernte die Kapitel auswendig, er fragte mich ab. In der Nacht, wenn das Licht gelöscht war und die anderen ihr Wachs in den Ohren hatten, hörte ich ihn in die Dunkelheit hinein fragen: »Was für eine Funktion haben die Kolbenringe?« Und er hörte mich in die Dunkelheit hinein antworten: »Die Kolbenringe sollen den Verbrennungsraum gegen das Kurbelgehäuse abdichten. Dadurch wird vermieden, dass Gase in das Kurbelgehäuse eindringen und eine Leistungsverminderung und Ölverschlechterung hervorrufen.« Sein Ziel war es, dass ich irgendwann die offizielle Lehrlingsprüfung ablegte. Ob das überhaupt möglich war, wusste er nicht. Die Wärter versprachen immer wieder, sie würden sich erkundigen. Aber vergaßen es. Und der Zellenvater versprach, dieses Thema bei seinem nächsten Besuch im Büro des Direktors zur Sprache zu bringen. Ich fand, es wäre eine schöne Aussicht, als Mechanikermeister aus dem Gefängnis entlassen zu werden.
Der Sommer 1967 war außergewöhnlich heiß, das sagten alle, auch Peter Schär von der Wetterprognose im Schweizer Radio , in das der Schweizerische Landessender Beromünster seit kurzem umbenannt war. (Peter Schär mochten wir gern, weil er über das Wetter redete, als wäre es etwas Lustiges, und sich immer mit einem Reim verabschiedete.) An manchen Nachmittagen konnte man es in der Werkstatt vor Hitze kaum aushalten. Die Gehülfen bockten die Autos draußen auf dem Vorplatz auf, schoben ihre Werkzeugwagen ins Freie, spannten Planen auf, um die Sonne abzuhalten, und an besonders heißen Tagen war es ihnen erlaubt, einen selbstgebauten Sprühkopf auf den Wasserschlauch zu schrauben und sich einmal in der Stunde durch künstlichen Regen Abkühlung zu verschaffen. Ich zerlegte derweil Vergaser, baute die Düsen aus, zog sie durch ein Benzinbad und blies sie mit Druckluft sauber oder suchte mir aus der Kiste mit den kaputten Anlassern brauchbare Teile, um einen »Altneuen« zusammenzubauen. Diese Arbeiten konnte ich jedoch nur drinnen tun. Der Zellenvater stellte mir eine andere Tätigkeit frei, draußen bei den anderen. Aber ich war zufrieden. Ich bewegte mich wenig, atmete flach und trank viel Wasser. Es war ein sinnvolles Leben. Ich wirkte gern an der Veränderung von Dingen mit. Obwohl mir an Veränderung im Prinzip nichts lag. Die Werkstatt war hell, und ich
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