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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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der Zeit Menschen geworden, weil sie Menschen waren, sie seien also bloß zum Menschsein zurückgekehrt. Und er erklärte auch, was er unter Menschlichkeit verstehe. Dass einer in der Lage sei, wenigstens für eine kurze Zeit, von sich abzusehen und sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, mit ihm zu leiden, sich mit ihm zu freuen, mit ihm zu hoffen, mit ihm zu wissen, wenn er am Ende ist … Mir sprach er diese Fähigkeit ab.
     
    Dann kehrte der Zellenvater zurück ins Sechserhaus. Er hatte abgenommen und trug den Arm in einer Schlinge. Seine Stimme war leise und undeutlich, sein Blick unsicher und, wie mir schien, von verwirrender Güte. Er bat, in einem der unteren Betten schlafen zu dürfen. Ich tauschte mit ihm. Das heißt, ich hatte in seiner Abwesenheit ohnehin in seinem Bett geschlafen.
    Auch der Italiano war wieder bei uns. Quique deutete mir an, er sei jetzt frei von Gift, man habe ihn einer Entziehungskur unterzogen. Ich fragte nicht nach, weil ich nicht nachfragen wollte.
    Am folgenden Tag schmuggelte ich einen Schraubenzieher aus der Werkstatt in die Zelle. Es war Anfang September und schwül. Der Italiano und Dissi saßen im Unterhemd, der Adlatus, Quique Jiménez und der Zellenvater mit bloßem Oberkörper um den Tisch. Wir aßen unser Schweineschmalzbrot mit den Essiggurken und tranken den Himbeersaft. Ich studierte die Haut an der Brust des Zellenvaters, merkte mir einen Punkt, zog den Schraubenzieher aus dem Ärmel und stieß ihn in sein Herz. Er sah mich nicht an, gab einen letzten puppenaugenblauen Blick ins Leere, dann schloss er den Mund und fiel zu Boden. Den Schraubenzieher, der nur wenig blutig war, drückte ich dem Adlatus in die Hand. Ich sagte, er solle mich damit erstechen. Wenn er sich traue. Er traute sich nicht. Da machte ich Geschrei. Ich schlug gegen die Tür, der Zellenvater sei ermordet worden, schrie ich. Der Adlatus habe den Zellenvater ermordet, schrie ich. Drei Wachbeamte stürmten mit Knüppeln und gezogenen Faustfeuerwaffen in die Zelle und überwältigten den Adlatus. Dabei hatte er sich nicht gewehrt, keinen Ton hatte er von sich gegeben. Den Zellenvater hat der Essensdienst hinausgetragen. Quique Jiménez, Dissi, der Italiano und ich wurden einer nach dem anderen verhört, zuerst vom Direktor, später von der Polizei. Das dauerte bis in die Nacht hinein. Wir sagten aus, der Adlatus habe wegen eines Streits den Zellenvater erstochen. Jeder von uns hatte es gesehen. Anders geht das ja nicht auf so engem Raum.
     
    Zum Prozess waren wir vier als Zeugen geladen. Es waren kleine Auftritte; am längsten der von Quique Jiménez, er war auch der erste, der aufgerufen wurde. Der Staatsanwalt stellte mir ein paar Fragen, der Richter ein paar und auch der Pflichtverteidiger. Die Verhandlung wurde in Schwizerdütsch geführt, ich musste immer wieder nachhaken. Ich antwortete mit »Ja«, »Nein« und »Weiß nicht«.
    Ich scheute mich nicht, Niculin Beeli anzusehen. Der Zellenvater hatte recht gehabt, wir beide, er und ich, waren die einzigen gewesen, die an den Gott glaubten. Niculin Beeli war ein Manifest eines stoischen Atheismus. Er saß auf der Anklagebank, trug einen dunkelblauen Anzug. Er hielt meinem Blick stand, drehte den Kopf nicht beiseite, aber, wie ich vermutete, nicht weil er einen letzten Kampf gewinnen wollte, sondern weil er mich gar nicht wahrnahm. Später erfuhren wir, dass er, wie erwartet, lebenslänglich bekommen hatte. Man war allgemein der Ansicht, das hätte er mit der Zeit auch ohne einen Mord zusammengekriegt. Der Italiano meinte, er sei beim Prozess bis obenhin voll mit Valium gewesen oder mit Librium oder sogar mit Luminal, vielleicht habe er auch eine Riesentüte Haschisch geraucht oder sich vorher einen Schuss Heroin gesetzt; also wenn man ihn frage, sei es Heroin gewesen, es gebe nichts Besseres. »Chi ha la testa nelle nuvole non vede più la terra.«
     

10
     
    Ich liebe Sprachen! Das war immer so gewesen. Bestimmt in Erinnerung an mein Paradies, als ich mit Staff Sergeant Winship im Wald lebte und wir uns gegenseitig unsere Vokabeln und unsere Grammatik beibrachten und abfragten, dabei auf dem Rücken im Schatten lagen und Overstolz pafften. Später hatte ich aus der Schulbibliothek ein Englischbuch geklaut und die Vokabeln auswendig gelernt, nur leider nicht richtig ausgesprochen, weil ich niemanden kannte, der es mir beigebracht hätte. Anregende Wörter waren darunter – prayer , surprise , cloud –, rätselhafte – neighbourhood ,

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