Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
beschränken. Dafür, dass ich ihm die Erlaubnis dazu gab, lieferte er ein Drittel des Gewinns an mich ab. Es war nicht viel, aber es sicherte schwarzen Tabak für Quique, Dissi und mich, und Kägi-fretti , so viel wir in uns hineinstopfen mochten, und ein bisschen Gespartes blieb obendrein übrig. Um auf einen besseren Schnitt zu kommen, streckte der Italiano das Heroin, er verwendete dafür eigentlich alles, was weiß und pulvrig war, zerstoßenes Aspirin oder Traubenzucker.
Es begann ein goldenes Zeitalter. Ich lernte Sprachen und beendete meine Lehre als Kfz-Mechaniker. Ein Dieb aus Luzern brachte mir Jiu-Jitsu bei, ich las Bücher über die Mondfahrt, den Urknall und die Anfänge der Chemie, und ich teilte mein Wissen mit. Alle waren zufrieden. Dissi lernte Deutsch bei mir, mit dem Italiano alberte ich herum, mit Quique unterhielt ich mich über philosophische Fragen wie Gerechtigkeit und Treue und spielte Schach mit ihm – er nahm mich systematisch in die Lehre, besorgte sich über die Bibliothek ein Buch mit neunundneunzig Meisterpartien (Roman Mertens und Theo Fries: Von den Meistern lernen , Stuttgart 1957) und repetierte sie mit mir; die zwanzig interessantesten lernte ich auswendig und spielte sie mit verbundenen Augen. Zwei Dinge müsse ich unbedingt beachten, um auf die Siegerstraße zu kommen und dort zu bleiben, schärfte er mir ein: Erstens dürfe ich den Gegner nicht hassen, das lenke mich mehr ab als ihn; zweitens solle ich, auch mit Freunden, nie umsonst spielen. Schach sorge für Spannung und Entspannung in einem; dafür seien viele Menschen gern bereit, zu bezahlen. Schach sei eine seriöse Möglichkeit, schnell ein wenig Geld zu verdienen. Auf das große Geld, philosophierte er weiter, könne man getrost ein Leben lang warten, das kleine brauche man immer, und immer sofort.
Nicht ein einziges Mal kam es zum Streit im Viererhaus. Die Meldungen, die ich monatlich beim Direktor ablieferte, brauchten nicht geschönt zu werden. Ich brachte diesem Mann Glück, indem ich seine Lebens- und Weltsicht als richtig bestätigte. Dafür bekam ich die Vergünstigungen, um die ich ansuchte. Wenn ein Häftling etwas auf dem Herzen hatte und nicht mehr aus noch ein wusste, schickte man ihn zu mir. Wenn ich helfen konnte, half ich. Ich war Anfang zwanzig und galt als weiser Mann. Und so kam es, dass ich eines Abends vor Weihnachten dem Direktor die Wahrheit sagte. Dass ich den Zellenvater getötet hatte. Dass ich ihm damit einen tiefen Wunsch erfüllt hätte, nämlich für jemand anderen zu sterben. Dass er nun damit rechnen dürfe, dass ihm der Gott verzeihe. Und dass ich den Zellenvater nicht zuletzt vor einem elenden traurigen Tod bewahrt hätte. Ich wusste, dass meine Beichte keine Folgen haben würde. Alles war besser, als es vorher gewesen war, daran würde die Wahrheit nichts ändern. Aber der Direktor wollte nicht, dass ich mich weiterhin in seiner Strafvollzugsanstalt, und auch nicht, dass ich mich weiterhin in der Schweiz aufhielte. Er stellte den Antrag, mich nach Österreich zu überstellen, und dem Antrag wurde schließlich stattgegeben. In seiner Beurteilung beschrieb er mich als den besten Häftling, den er je gehabt hatte, in jeder Hinsicht: Verlässlichkeit, Intelligenz, Umgänglichkeit, Vertrauenswürdigkeit usw.
So kehrte ich nach fünf Jahren in der Schweiz wieder nach Österreich zurück.
Auch die österreichische Strafanstalt möchte ich nicht nennen. Die Verpflegung in der Schweiz war besser. Ich war endlich wieder in einer Einzelzelle untergebracht wie während der Untersuchungshaft in Liechtenstein. Meine Sprachstudien setzte ich fort. Ich hörte auf Langwelle spanische, französische und italienische Sendungen und entwickelte ein eigenes Lernprogramm. Probieren Sie einmal Folgendes aus: Hören Sie Nachrichten, und sprechen Sie dem Sprecher nach, und versuchen Sie, so eng wie möglich an ihn heranzukommen! Das Ziel ist, dass es klingt, als würden Sie gemeinsam mit dem Sprecher die Nachrichten verlesen. Diese Methode wandte ich bei Nachrichten in den genannten Fremdsprachen an. Ich nützte das Angebot, die Matura nachzumachen, und bestand mit Auszeichnung. Das Lernen und die Arbeit in der Kfz-Werkstatt und mein Muskeltraining füllten meinen Tag aus, nachts schlief ich prächtig. Ich gewann einen neuen Freund, den Gefängnispfarrer. Mein Schicksal war ihm angelegen. Auch der Direktor der Anstalt war der Meinung, man müsse einem Menschen wie mir die Chance geben, neu anzufangen.
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