Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
wusste, wie ich den Frieden herbeiführen sollte. Ich wusste es auch. Für ihn war das Sechserhaus die Hölle, und er betete zu seinem Vater-unser-Gott, er möge ihn bald daraus auferstehen lassen, um welchen Preis auch immer.
Das Sechserhaus war ein Experiment des Direktors, das seine Lebens- und Weltsicht als richtig beweisen sollte. Das hat er mir zwei Monate später, nachdem das Experiment auch nach seinem Urteil gescheitert war, sehr ausführlich dargelegt, die Füße mit den zweifarbigen Cowboystiefeln auf seinem Schreibtisch überschlagen. Himmel, viel erzählte er mir, um vor mir und vor sich selber anzugeben – und um darzulegen, warum sein Experiment eben doch ein gutes und, genau genommen, eben doch nicht gescheitert sei!
Er, hochbegabtes neuntes Kind einer Bauernfamilie aus dem Engadin, sei, anstatt Pfarrer zu werden, wie vom Dorfgeistlichen vorgesehen, in die USA abgehauen und habe bis in die frühen sechziger Jahre hinein an der University of Chicago Psychologie und Erziehungswissenschaft studiert und sich mit Bruno Bettelheims Milieutherapie, Wilfred Bions Gruppenanalyse und Melanie Kleins Objektbeziehungstheorie beschäftigt (er tat, als spräche er mit einem Kollegen, während er mir, einem nicht zwanzigjährigen Gefangenen, Whisky nachgoss) und in seiner Master-Thesis, eingereicht bei ersterem, versucht, in der Theorie zu erläutern, warum die gegenseitige Beaufsichtigung und Reglementierung von Kindern innerhalb einer von einem starken Vater behüteten Großfamilie die wirkungsvollste Art der Erziehung hin zur Menschlichkeit sei. Die unvergleichlichen Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts, schwadronierte er wichtigtuerisch, dürften durchaus mit dem Zerfall der Großfamilie und der Familie überhaupt sowie mit drastisch verringerten Stillzeiten erklärt werden, wofür Stalin und Hitler, beide mehr oder weniger Einzelkinder vielbeschäftigter Frauen, sozusagen lebende, das heiße, inzwischen, dem Himmel sei Dank, nicht mehr lebende, Indizien seien. Jedenfalls habe er, aus Amerika zurückgekehrt, in seiner Bewerbung um die Stelle des Direktors dieser Justizvollzugsanstalt die Ambition kundgetan, hier die Erkenntnisse seiner amerikanischen Studien auf ihre praktische Wahrheit hin zu überprüfen, und habe damit seine Mitbewerber, die in ihren Vorstellungen allesamt im 19. Jahrhundert stecken geblieben seien, allesamt »meilenweit« ausgestochen. Sein kühnstes Experiment – vertraute er ausgerechnet mir an – habe eben darin bestanden, die Einsamsten der Einsamen und Gefährlichsten der Gefährlichen zusammenzulegen, um am krassen Beispiel zu beweisen, dass sich in der Gemeinschaft das Gute durchsetze, nämlich weil es ein biologisch verankertes Überlebensprinzip sei und sich deshalb durchsetzen müsse; dass es sich also quasi naturgesetzlich durchsetze. Was der Vater in der Familie, sollte der Zellenvater in der Zelle sein – in unserem Fall sei dies eben Johann Brühlmeier gewesen.
Da hatte ich – einen knappen Monat nach seinem Tod! – zum ersten Mal seinen wirklichen Namen gehört und auch erfahren, warum er einsaß. Ich denke, ich bin es ihm schuldig, dass ich seine Geschichte, kurz zusammengefasst, erzähle.
Er stammte aus Solothurn, hatte dort eine Kfz-Werkstatt besessen und sich neben seiner Arbeit dem Sport gewidmet, erst dem Kugelstoßen, Hammerwerfen und Speerwerfen, schließlich mit größter Begeisterung dem Stemmen. Zweimal war er Schweizer Meister der obersten Gewichtsklasse im Reißen, Stoßen und Drücken gewesen. Ein drittes Mal trat er nicht mehr an, auch nicht, als ihm eine Teilnahme bei den Olympischen Spielen in Aussicht gestellt wurde. Stattdessen trainierte er die Jugend.
Seine Schwester, fünf Jahre jünger als er, arbeitete im Büro der Werkstatt. Die beiden zankten sich oft. Wenn es möglich war, gingen sie einander aus dem Weg. Bei Familienanlässen trank sie ein bisschen zu viel. Es bestand aber kein Grund zur Sorge.
Er stellte einen Betriebswirt ein. Das Unternehmen war zu groß geworden, als dass es weiterhin von nicht dafür ausgebildeten Kräften geführt werden konnte. Der neue Mann war nicht übermäßig höflich zu den Kunden und nicht allzu gepflegt und hatte nur wenig Manieren. Der Schwester gefiel er, und nach wenigen Monaten waren sie verheiratet.
Der Schwager sah die Arbeit lockerer, als sie der außerfamiliäre Angestellte gesehen hatte. Er kam später und ging früher und borgte sich ab und an Geld aus der Kasse. Lange Zeit erwuchsen daraus
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