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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Es bestehe für Gefangene mit besonders guter Führung die Möglichkeit, eine neue Identität anzunehmen; dass ich also einen neuen Namen bekäme, einen neuen Pass, einen neuen Staatsbürgerschaftsnachweis, eine neue Geburtsurkunde. Der Direktor fragte, ob ich daran interessiert sei. Ich sagte, das sei ich. Üblich sei es, sagte er, den Vornamen zu behalten und nur den Familiennamen zu ändern. Ich solle mir in Ruhe einen neuen Familiennamen ausdenken.
    Auf seinem Schreibtisch lag aufgeschlagen der Kurier . Die Überschrift über einem Artikel lautete: Agentendrehscheibe Wien . Darunter stand: »Ein Spaziergänger im Wiener Volksgarten belauschte einen tschechischen und einen bundesdeutschen Agenten. Aus dem Gespräch sei hervorgegangen, dass ein hoher Wiener SPÖ-Politiker seit Jahren an tschechische Behörden Informationen liefere.« Die Identität des »Spazierers« sei der Zeitung bekannt, hieß es am Ende des Artikels.
    Ich sagte zum Direktor: »Ich möchte Spazierer heißen.«
    »Wollen Sie nicht etwas eingehender darüber nachdenken?«, fragte er. »Den Namen tragen Sie Ihr Leben lang.«
    »Nein«, sagte ich, »ich würde gern Spazierer heißen.«
    Dem Gefängnispfarrer gefiel der Name. Er war Mitte dreißig, sah aus wie ein Apostel, besuchte das Gefängnis einmal in der Woche, immer donnerstags, hielt Gottesdienst, hörte die Beichte und übernachtete in einer der Zellen. Er fragte, ob es ein jüdischer Name sei. Das wisse ich nicht, sagte ich.
    Er sagte: »Ich denke, es ist nicht schlecht, wenn die Leute meinen, es sei ein jüdischer Name. Dann fragen sie nicht. Bestehst du auf deinen Vornamen? Ist es wichtig für dich, dass du weiter Andres heißt?«
    »Ich heiße nicht Andres«, sagte ich. »Ich heiße András.«
    »Vielleicht wäre es nicht schlecht«, sagte er, »wenn du das Jüdische mit einem jüdischen Vornamen betonst.«
    Bei seinem nächsten Besuch brachte er eine Liste mit jüdischen Vornamen mit. Wir entschieden uns für Joel.
     
    Am 20. Mai 1974 – an meinem neuen Geburtstag – wurde ich nach acht Jahren und fünf Monaten wegen besonders guter Führung vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Rudolf Jungwirth, der Gefängnispfarrer, lud mich in seine Wohnung nach Wien ein, damit ich dort bliebe, bis wir etwas für mich gefunden hätten, Arbeit und Wohnung. Er richtete mir auf seinem Sofa im Wohnzimmer ein Bett und schenkte mir zwei Hemden und eine Jeans, wir hatten die gleiche Statur. In der Küche stand ein kleiner Schwarz-Weiß-Fernseher, wir schauten uns an, wie Muhammad Ali seinen Rivalen George Foreman in der 8. Runde durch K.o. besiegte. Der Kampf fand in Kinshasa, Zaire, statt. Er wurde berühmt als The Rumble in the Jungle . Wir tranken Bier und rauchten Zigaretten, Smart Export ; sie waren von nun an auch meine Marke. Dieser Abend hat viel zu unserer Freundschaft beigetragen. Zwei- oder dreimal versprach er sich und nannte mich bei meinem alten Namen. Am folgenden Tag schon nicht mehr.
    Aus der Küche rief er: »Joel, magst du Tee oder Kaffee?«
    Ich antwortete: »Rudi, du alter Schwarz-Weiß-Kragen, Kaffee mag ich!«
    Ich bat ihn, hinausgehen zu dürfen und die Semmeln fürs Frühstück zu besorgen. Er war ein geduldiger Mensch, wartete eine Stunde, bis ich zurückkam. So viel gab es zu sehen! Nichts gab es, was nicht wert gewesen wäre, angesehen zu werden!
    Ich war ein neuer und ein freier Mensch.
    Ich war Joel Spazierer – fünfundzwanzig Jahre alt, geboren am 20. Mai 1949 in Wien, Alsergrund; mein Vater, Hermann Spazierer, meine Mutter, Edith Spazierer, geborene Reisinger, waren am 17. August 1962 gestorben, als sie – ich war gerade dreizehn Jahre alt – mit ihrem neuen Auto in die Schweiz gefahren waren und in der berüchtigten Via Mala in Graubünden von der Straße abkamen und in die Schlucht stürzten. Ich ließ mir Gesichts- und Kopfhaare wachsen, bis mir die kastanienbraunen Locken über die Schultern hingen und der Bart bis auf die Schlüsselbeine reichte. Und ich besorgte mir eine Sonnenbrille, wie der Polizist in Psycho eine hatte.
    Alles kann aus uns werden!

SIEBTES KAPITEL
     
    Alles kann aus uns werden? – Das ist doch ebenso eine Drohung wie eine gute Hoffnung, habe ich recht? Das heißt doch nur: Wir wissen es nicht. Und wissen es eine Minute vorher nicht. Eine Sekunde vorher nicht. Wir stehen auf einem Fleck, die Füße nebeneinander, die Hände an der Hosennaht, und rühren uns nicht; wir fragen uns, wie sind wir hierhergekommen, irgendetwas geschieht hier,

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