Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
ich nicht, sie hat recht«, und sie sagte: »Aber Joel seiner könntest du ruhig sein, finde ich«, und er sagte: »Warum könnte ich Joels Beichtvater sein und deiner nicht?«, und ich sagte auch: »Ja, warum könnte er mein Beichtvater sein?«, und Hemma sagte: »Weil ihr beide nicht gemeinsam eine Sünde begeht.«
Wir lachten, aber nicht wegen der Fragen, wessen Beichtvater Rudi sein könnte und wessen nicht und warum und warum nicht, sondern einfach nur, wenn wir uns ansahen. Eine Stunde lang lachten wir, wenn wir uns ansahen, als stünde im Gesicht des anderen die ganze Peinlichkeit der eigenen gottgesegneten Existenz geschrieben; und schwiegen eine weitere Stunde und starrten auf unsere Gedanken, an denen es nichts zu sehen gab, weil sie jede Beziehung zu den sichtbaren Dingen verloren hatten, und aßen am Ende alles Brot weg und kratzten den angebrannten Reis aus dem Topf. Mir war, als wäre ich zwei: einer, der nichts, und einer, der alles über mich wusste, und ich erzählte – nämlich dem, der nichts über mich wusste, und sonst erzählte ich es niemandem –, dass ich noch nie mit einer Frau geschlafen hatte. Hemma nickte, legte ihre Faust in ihre Armbeuge und wiegte und drehte sie wie einen Kinderkopf und zog eine Schnute dazu und summte und strich mit ihren langen glatten Haaren über die Kinderkopffaust, und Rudi sagte, das sei ein zu ernstes Thema, als dass man es high erörtern sollte.
In dieser Nacht schliefen wir bei Hemma in der Küche, ich auf dem einen Sofa, Rudi und Hemma auf dem anderen. Sie probierten Sex miteinander, aber es gelang anscheinend nicht recht.
Rudi glaubte an den Gott wie ich an den Sonnenaufgang im Osten; und er glaubte, dass der Gott, was seine göttlichen Erfindungen betreffe, am meisten stolz nicht auf den Himalaja sei oder auf den Pazifik, nicht auf die Ringe des Saturn und nicht auf die schwarzen Löcher im Nabel der Milchstraße, auch nicht auf die Lichtgeschwindigkeit oder die Zellteilung, nicht auf die Entropie und nicht auf den Urknall, sondern auf die Liebe. Und zwar nicht auf diese unpraktikable hysterische, verlogenerweise geistig genannte Liebe des Menschen zu ihm, seinem Herrn, wie sie die offizielle Kirche verkünde, sondern auf die leibliche Liebe des Menschen zu Seinesgleichen, wie »ER« sie höchstpersönlich in unsere Körper eingeknetet habe und von der uns in der Bibel erzählt werde, besonders eindringlich in Genesis 19,30–38, wo die beiden Töchter Lots ihrem Vater ordentlich Wein einschenken, bis er betrunken ist, und sich dann auf ihn setzen und sich von ihm schwängern lassen, nicht, wie uns oberschlaue Exegeten weismachen wollen, weil kein anderer Mann zur Verfügung gestanden habe und es eine Schande für sie gewesen wäre, kinderlos zu bleiben – was für eine lächerliche Erklärung! –, sondern weil die Schwestern, wie jede moderne Psychologie aus dem Hemdsärmel erklären könne, nach der Katastrophe von Sodom in den Lebenstaumel der Überlebenden verfallen und dabei so geil geworden seien, dass sie sich den nächstbesten Schwanz gegriffen hätten, und das sei eben der ihres Vaters gewesen. Unserem wunderbaren, von Ewigkeit zu Ewigkeit waltenden Schöpfer sei nur eines heilig: das Leben, und das Leben – »Hör mir zu, Joel!« – das Leben, das sei Sex. Sex sei ein Menschenrecht, und es sei eine heilige Pflicht, all jene zu bekämpfen, die dieses Menschenrecht mit ihren blutigen Faschistenstiefeln treten. Ich sei in Gottes Augen ein Sünder, weil ich so lange enthaltsam gelebt hätte.
Beim Frühstück schlug er vor, ich solle zunächst zu einer Prostituierten gehen.
»Ich denke«, sagte er, »die Sache hat in deinem Kopf inzwischen eine Dimension angenommen, die dich in die Nähe lästerlicher Götzenanbetung drängt. Das ist nicht gesund. Du musst es ruhig angehen. Sex dient dazu, nervöse Depressionen abzubauen, und nicht, sie aufzubauen. Sex ist banal.«
Ebenso wie die Welt banal sei. Und es sei eine Gemeinheit Gott, dem Schöpfer, gegenüber, das Banale als niedrig zu erachten. Das sei die Sünde schlechthin. Daraus entstehe der Faschismus, nämlich aus der Sucht des Menschen, dass immer etwas los sein müsse, dass sie mit dem, was ist, einfach nicht zufrieden sein könnten. Jeder Tag solle ein Feiertag sein! Und weil 99,999 Prozent von allem banal sei, sei Gott zu 99,999 Prozent banal. Die Tätigkeit einer Hure, so seine Erfahrung, enthalte nicht weniger Priesterliches als seine eigene Tätigkeit. Zwei bezahlte Stunden bei
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