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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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runde Nickelbrille trug, zwickte er gern beim Reden die Augen zusammen und zeigte ein bisschen Zünglein, was seinem Gesicht einen immer erstaunt ironischen Ausdruck verlieh. Ich half ihm beim Putzen in der Sakristei; das tat er einmal in der Woche, und es wäre nicht nötig gewesen, denn selbstverständlich bezahlte die Pfarre eine Putzfrau. Er wolle damit an Jesus erinnern, der seinen Jüngern die Füße gewaschen habe, und gleichzeitig wolle er den fetten Bonzen vom Dechanten aufwärts, die meinten, sie seien etwas Besseres, durch sein Vorbild im wörtlichen Sinn eines auswischen. Während wir putzten, predigte er mir. Eben zum Beispiel über die Lüge. Spätestens seit dem Vietnamkrieg und der Mondlandung, klärte er mich auf, sei auch dem frömmsten Seelchen klargeworden, wie mit Hilfe des Fernsehens und der modernen Statistik die Wahrheit zu einem Instrument der Lüge umgepolt werden könne. Warum, bitte, solle der umgekehrte Weg nicht ebenfalls zum Erfolg führen, nämlich indem die Lüge zu einem Instrument der Wahrheit veredelt würde? Ich stimmte ihm zu und sagte, bei Kühlschrank und Wärmepumpe sei es auch so, dass dieselbe Methode in beiden Richtungen funktioniere.
    »Wir besitzen die Lüge«, dozierte er gegen den Staubsauger an, »damit wir frei entscheiden, wozu wir sie gebrauchen. Auch die Lüge kommt von Gott!«
    Ich widersprach ihm nicht. In dem polierten Messkelch konnte ich ja sehen, wie aus gottgeschaffener Natur die Lüge wuchs: der da, der sich in der konvexen Rundung verzerrt spiegelte, der mit den rostbraunen, über die Schultern fallenden Zapfenlocken, die den Hals und die Ohren verbargen, der mit dem dichten schwarzen Bart, der die Wangen unter sich begrub und nicht eine Ahnung von Kinn und nur wenig von Lippen ließ – nichts sprach dafür, dass ich der war. Sogar die verräterischen Goldpunkte auf der Stirn waren verdeckt. Setzte ich obendrein die Ray Ban auf, hätte nicht einmal ich selbst mich von den vielen Studenten unterscheiden können, die an den letzten sonnigen Oktobertagen vorwiegend vor den Instituten für Politologie, Soziologie, Germanistik, Theaterwissenschaft und Psychologie anzutreffen waren, und die wiederum eins zu eins jenen Theologen gleichsahen, die in ihren Zimmern Landkarten von Lateinamerika und Porträts von Che Guevara an den Wänden hängen hatten und Der kleine Prinz von Saint-Exupéry und Gedichte von Ernesto Cardenal lasen. Wir alle sahen gleich aus. Ich hätte jeder von denen sein können. Das war mir recht – und darin bestand meine Lüge: Ich wollte tatsächlich ein anderer sein und nicht nur, wie Rudi meinte, wie ein anderer aussehen . Denn auch der, der ich unter Bart und Haaren war, der war ich in Wahrheit nie gewesen, und der, der ich in Wahrheit war, den hatte nie einer gesehen.
    Unter unseren Studenten, so berichtete mir Rudi, sei einer, der es als seine christliche Pflicht erachte, dem Sekretär des Erzbischofs Bericht zu erstatten, was im Heim los sei. Gut so. Bisher laufe alles wie geplant. Es werde bereits, wie wir erwartet hatten, gerätselt, ob ich tatsächlich Jude sei, und es herrsche, wie wir ebenfalls erwartet hatten, große Freude darüber, dass, falls ich einer sei, ich mich an sie gewandt hätte; die Apostel, unter ihnen zweifellos einige Erleuchtete, seien schließlich ebenfalls Juden gewesen. Ich solle halt ab und zu, riet er mir, den einen oder anderen irgendwie erleuchteten Satz von mir geben. Er überreichte mir ein Taschenbuch aus der »wohlsortierten Bibliothek« des Seminars mit Texten von Meister Eckhart ( Eckhart. Auswahl und Einleitung Friedrich Heer , Frankfurt a.M., 1956). »Erleuchteteres« sei weit und breit nicht zu kriegen. Aber ich solle es nicht übertreiben. Ein Satz alle vierzehn Tage oder einer pro Monat genüge. Und wenn ich in dem Büchlein nichts fände, solle ich es ihm melden, dann gebe er mir ein Kräutlein aus dem »wohlsortierten Garten Gottes« zu rauchen, das einen zwar nicht die Engel sehen lasse, aber fast.
    Meine Bezahlung als Hausmeister war dürftig, dafür aber wohnte ich frei und allein in einem eigenen Zimmer und hatte nichts weiter zu tun, als die Putzfrau zu kontrollieren (was nicht nötig war), kleinere Reparaturarbeiten zu erledigen, das Telefon zu kassieren, wenn einer der Studenten es benutzte, und für Fragen aller Art ein Ohr zu haben. Eine Werkstatt stand mir zur Verfügung; sie befand sich im Parterre, gleich neben meinem Zimmer, hatte große Fenster zum Hof hinaus, wo eine stattliche

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