Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
einer behutsamen Professionellen würden meine Komplexe nachhaltiger lockern als zwanzig bezahlte Stunden bei einem Psychoanalytiker oder zweihundert Vaterunser, das gebe auch jeder ehrliche Psychoanalytiker und jeder ehrliche Priester zu.
Er zog vor Hemma eine Show ab; er konnte ihr ja nicht sagen, dass meine Enthaltsamkeit andere Gründe hatte.
Die beiden legten zusammen, und Rudi begleitete mich in den Tiefen Graben zum Hotel Orient . Das sei ein Stundenhotel, in dem sich heimlich Paare träfen, weil ihre Liebe von der Gesellschaft nicht toleriert werde und deshalb unbeobachtet, im Verborgenen, geheim bleiben müsse.
In der Bar saßen drei Prostituierte. Rudi schien wenigstens eine von ihnen zu kennen. Sie war groß und feist und vierzig, hatte hoch auftoupierte schwarze Haare und schwarz umrahmte Augen, nofretetehaft in die Schläfen hinaus geschminkt. Sie nannte sich Yvonne und nahm mich mit über die enge Stiege hinauf in ein Zimmer. Ohne ein Wort zog sie sich aus.
Ich war fünfundzwanzig Jahre alt und hatte in meinem Leben nur eine Frau nackt gesehen: Moma.
»Komm schon«, sagte die Frau. »Hab keine Angst. Ich habe auch keine. Und ich hätte viel mehr Grund dazu als du. Du bist ein gutaussehender Mann. Komm zu mir, halten wir uns fest.«
3
In der nächsten Frühe, einem Wintertag mit Schneematsch, Regen und scharfem Wind, war ich tatsächlich mit der Straßenbahn nach Döbling gefahren. Ich trug die geölte Segeltuchjacke, die mir Rudi über den Winter geborgt (und nie mehr zurückgefordert) hatte. Innen war sie mit einem einknöpfbaren wollenen Futter ausgestattet, ein Segen. Eine Mütze wäre gut gewesen. Noch passte mein Besitz in einen kleinen Koffer. Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder zurechtfand. Schließlich entdeckte ich die Kaasgrabengasse und dort das Haus Nummer 4, eine wuchtige Villa mit erhöhtem Erdgeschoss und zwei Stockwerken, von zwei Türmchen flankiert, an deren von Grünspan übergossene Dächer ich mich gut erinnern konnte. Neben der Klingel zur Wohnung im ersten Stock stand: Dr. Ernö Fülöp und Dr. Helena Fülöp-Ortmann – dasselbe Schildchen, mit Schreibmaschine getippt und unter einen durchsichtigen Plastikstreifen geklemmt, wie vor dreizehn Jahren.
Es war halb acht Uhr und noch dunkel. Im ersten Stock sah ich kein Licht brennen. Momas Wohnung nahm das gesamte Stockwerk ein, ihr Schlafzimmer lag nach hinten hinaus – vorausgesetzt, sie hatte alles so belassen wie damals. Am Grundstück entlang des Gehsteigs zog sich ein Eisengitter mit Speerspitzen obendrauf. Um diese Zeit waren viele Menschen auf der Straße, sie gingen zur Arbeit oder fuhren mit dem Auto, es wäre schwer möglich gewesen, über den Zaun zu steigen, ohne aufzufallen. Das Tor war abgesperrt. Ich suchte mir einen Baum auf der anderen Straßenseite, wo ich mich unter einen Ast stellen und das Haus einsehen konnte. Ich wartete. Als es hell wurde, verließ ich meinen Posten und spazierte die Straße hinauf, gerade so weit, dass ich die Fenster im ersten Stock im Blick behielt, drehte mich um und ging in die andere Richtung und so ein paar Mal hin und her. Meine Schuhe waren nicht dicht, ich bekam bald nasse Füße. Außerdem hatte ich Hunger.
Irgendwann bildete ich mir ein, Licht aufflackern zu sehen. Ich überquerte die Straße, um näher beim Haus zu sein. Im selben Moment wurde das Tor geöffnet, und ich wechselte schnell die Richtung. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, ich bewegte mich auf den Eingang zu. Es war Moma. Es ergab sich, dass wir ein Stück nebeneinander hergingen.
Ich hatte sie seit unserer Abreise aus Wien nicht mehr gesehen und nur drei- oder viermal mit ihr telefoniert. An dem Tag, an dem sie bei meinem Prozess als Zeugin geladen war, hatte ich meine Anwesenheit im Gerichtssaal verweigert. Mein Anwalt, Dr. Wyss, berichtete mir, der Staatsanwalt habe sie gefragt, was sie darüber denke, dass ich sie nicht sehen wolle. Auch Mama und Papa habe er diese Frage gestellt; sie hätten geantwortet, sie seien sehr traurig deswegen. Moma aber habe gesagt, sie an meiner Stelle hätte das Gleiche getan. Nein, sie sehe darin nicht die geringste Missachtung ihrer Person. Im Gegenteil. Was »im Gegenteil« heiße, habe der Staatsanwalt wissen wollen. Moma habe geantwortet: Sie glaube nicht, dass er das verstehen könne. Und damit hatte sie recht gehabt. Er verstand es nicht. Auch Dr. Wyss verstand es nicht. Und ich auch nicht. Und sie natürlich auch nicht. Aber wie ich meine Moma
Weitere Kostenlose Bücher