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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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wird sie sehr ernst. Sie erkennt mich nicht, aber sie denkt an mich. Das Leben sei sehr kurz, sagt sie, nicht länger als eine lange Beichte.
    Der Kellner bringt das Frühstück. Omelett mit allem, Würstchen mit Senf und Gulaschsaft, Lachs mit Kren, ein Rollmops, Schnittlauchbrot, zwei Semmeln, rote Marmelade, gelbe Marmelade, Honig, eine Kanne Tee und eine Kanne Kaffee, ein Glas Grapefruitsaft und einen Apfelstrudel. Sie beobachtet mich beim Essen und zupft sich hier etwas ab und dort etwas ab und raucht eine dritte und eine vierte Zigarette.
    Ob meine Freundin in Döbling wohne, fragt sie. Nein, sage ich. Was ich denn so früh dort draußen zu suchen hätte.
    Ich sage: »Ich habe keine Freundin.«
    »Wenn Sie sich den Bart und die Haare schneiden lassen, werden Sie bald eine haben.«
    »Meinen Sie?«
    »Ich weiß es.«
    Nun tue ich wie sie. Ich schau ihr auf den Mund und nicht in die Augen. Hat Major Hajós auch mit ihr über die Verhörmethoden bei der ÁVH gesprochen? Oder hat sie die Methode, Vertrauen durch Melancholie zu erzeugen, während ihrer Verhöre durchschaut und sich vorgenommen, in eigener Sache ähnlich zu verfahren, wenn sie je wieder Gelegenheit für eine eigene Sache haben würde? Sie tippt mit ihrem Finger auf meinen Handrücken. Als wolle sie mich aus meiner Geistesabwesenheit wecken.
    »Was denken Sie?«
    Ich sage die Wahrheit: »Ich habe noch nie eine Freundin gehabt.«
    »Und woran liegt’s?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Und ich soll Ihnen das glauben?«
    Ich sage nichts.
    »Ihr seht alle gleich aus«, sagt sie. Ihre Stimme ist aus den Fugen. Sie kippt in den Ton, der für ihre Wut reserviert ist und der mich als Kind glauben ließ, in der Küche sei jemand, gegen den sie kämpfe. »Jedenfalls eure Köpfe.«
    Ich frage, ob sie Ungarin sei. Sei sie nicht, lügt sie.
    »Ihr seht alle aus wie Terroristen«, sagt sie.
    »Die Terroristen sehen aus wie wir«, sage ich. »Wenn wir anders aussähen, würden sie auch anders aussehen. Es ist ihre Tarnung.«
    »Politik interessiert mich nicht«, sagt sie.
    »Mich auch nicht«, sage ich.
    »Und trotzdem studieren Sie Politikwissenschaften?«
    »Weil dort die schönsten Studentinnen sind.«
    »Mich interessiert nicht Politik, und mich interessiert nicht, was war«, sagt sie. »Mich interessiert nur, was ist.« Sie klopft mit ihrem Zeigefinger gegen ihre Brust. »Was hier drinnen ist in diesem Augenblick. Auch die Studentinnen der Politikwissenschaften interessiert das am meisten, glauben Sie mir.«
    So ist sie ohne mich, denke ich. So war sie, bevor ich war. Einmal habe ich mitgehört, wie meine Mutter meinem Vater die Geschichte erzählte, als Moma ihren Mentor und späteren Geliebten, den »Herrn Professor Levente Habich«, kennen gelernt hatte; nämlich nicht im Seminar in Budapest, sondern in dem Städtchen Quedlinburg in Deutschland, wo die beiden 1936 an den Feierlichkeiten zum 1000. Todestag von Heinrich I. teilgenommen hatten. Der sagenhafte König der Ostfranken hatte im Jahr 933 die als unbesiegbar geltenden Ungarn geschlagen, und als eine Art später Versöhnung war eine Delegation von ungarischen Archäologen eingeladen worden, Professoren und Studenten. Heinrich Himmler, der die Feierlichkeiten leitete, gratulierte Habich zu seiner bezaubernden Begleitung, worauf die Studentin klarstellte, dass sie dem Herrn noch gar nicht vorgestellt worden sei. Also Heinrich Himmler war es gewesen, der Moma und Prof. Habich zusammengeführt hatte.
    Es hat aufgehört zu regnen. Die Sonne kommt durch. Sie legt einen Streifen Licht über unseren Tisch, den der Kellner immer wieder abräumt und auffüllt. Immer wieder bestellt Moma etwas. Mineralwasser, Tee, Kakao, ein Ei. Wenn der Tisch leer ist, heißt das, dass wir gleich aufbrechen werden. Ich sehe Angst, Melancholie, Erregung.
    Sie hält meine Hand fest. »Ki vagy te?«
    »Ich verstehe Sie nicht.«
    »Nézz rám!«
    »Ich verstehe Sie nicht.«
    »Du hast recht«, sagt sie. »Ich bin Ungarin. Und du?«
    »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
    Sie hält meine Hand fest, damit ich nicht in meine Jackentasche greife. Ich hätte gar nicht genug Geld bei mir, um das alles zu bezahlen. Sie winkt dem Kellner. Sie ist schöner, wenn sie nicht ernst ist. Das war immer so gewesen. Es ist ein schmaler Streifen zwischen Heiterkeit und Melancholie, auf dem sich ihre Schönheit entfaltet. Ich kenne sie. Sie ist meine Moma. Aber ich bin nicht mehr der, der ich war. Das macht alles anders. Ich bin Joel Spazierer. Ihre

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