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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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kannte, hatte sie es in einer Weise vorgebracht, die jeden überzeugt sein ließ, dass zwischen ihr und mir ein besonders buntes Band gespannt sei. Der Staatsanwalt suggerierte in seinem Plädoyer, es könne sich nur um ein teuflisches Band handeln. Moma würde sich nie auf die Seite der anderen gestellt haben.
    Sie öffnet den Schirm, und ich ziehe den Hals ein, um den Speichen auszuweichen. Sie sagt, dass ein Sauwetter sei, und hebt den Arm, als wolle sie mich unter ihren Schirm einladen. Sie sieht gut aus. Die Haare sind honigfarben. Sie stülpt die Kapuze über den Kopf. Sie hat die Augen geschminkt und die Lippen, das macht sie älter. Aber wie sie mich anschaut, wirkt sie jünger als vor dreizehn Jahren. Sie lächelt, und ich lächle zurück. Sie erkennt mich nicht. Ich versäume den Moment, ihr zu antworten. Sie nickt mir einen Gruß zu und marschiert davon. Von hinten sieht sie aus wie eine junge, gut trainierte Frau. Sie trägt Stiefel mit hohen Absätzen und einen langen dunkelblauen taillierten Mantel. Ihre Bewegungen sind heftig. Sie zwirbelt den Schirm. Über Pfützen hüpft sie. Ich folge ihr.
    Sie wartet bei der Straßenbahnstation. Ich stelle mich nicht weit von ihr neben die Schienen. Sie weiß, dass ich sie ansehe. Deshalb lächelt sie. Sie weiß, dass ich ihr Lächeln zu deuten versuche. Neben mir sprechen zwei Männer über einen terroristischen Überfall auf das OPEC-Hauptquartier und dessen anschließende Besetzung, die erst gestern beendet worden sei. Die Terroristen hätten sich vom Hotel Sacher verköstigen lassen. Unser Innenminister habe sich vom Chef der Terroristen am Flughafen mit Handschlag verabschiedet. (Ich hatte keine Zeitungen gelesen, kein Radio gehört, und wenn im Fernsehen Nachrichten gesendet wurden, hatte ich weitergeschaltet.) In der Straßenbahn setze ich mich neben sie. Wir sprechen nicht miteinander, schauen geradeaus. Ich beobachte sie aus dem Augenwinkel. Ob sie noch lächelt. Sie lächelt. Sie lächelt für den Fall, dass ich sie aus dem Augenwinkel beobachte. Bei der Votivkirche steigt sie aus. Der Schneeregen ist dichter geworden, der Wind stärker. Ich laufe ihr nach, sage, falls sie in die gleiche Richtung ginge wie ich, böte ich mich an, ihren Schirm zu halten, vielleicht bekäme ich auf diese Weise auch etwas von der Trockenheit ab. Ich finde, das ist eine charmante Formulierung. Sie sagt, sie gehe ins Landtmann frühstücken. Das sei auch meine Richtung, sage ich.
    Sie sagt: »Das glaube ich Ihnen nicht.«
    Sie lädt mich zum Frühstück ein. Sie meidet meine Augen. Sie schaut auf meinen Mund. Sie hat an Souveränität verloren. Ich bestelle einen großen Braunen und eine Buttersemmel. Sie spricht den Kellner mit seinem Vornamen an. Er solle ein Frühstücksmenü für mich zusammenstellen, mit einem großen Braunen und einer Buttersemmel würde ich gewiss nicht satt werden. Ich sitze ihr gegenüber. Der Tisch ist für sie reserviert. Auf einem Kärtchen steht: Prof. Dr. Fülöp-Ortmann.
    Ich sage: »Wenn Sie jemanden erwarten, störe ich Sie bestimmt.«
    Sie sagt und spricht dabei so leise, dass ich mich vorbeugen muss: »Ich erwarte gar niemanden.« Sie weiß nicht recht, wie sie das Gespräch weiterführen soll.
    Am schönsten ist sie in ihrer Melancholie, so war es immer gewesen – wenn sie am Tisch gesessen war, die Hände vor sich auf der Platte verschränkt, die Augen auf das Fenster gerichtet.
    Sie fragt, ob ich studiere. Ich sage, ich studiere Politologie und Germanistik, ich würde gerade an meiner Hausarbeit schreiben, über den österreichischen Bürgerkrieg 1934 , aber ich hätte meine Zweifel, ob solche Rückschau nicht von den Problemen der Gegenwart ablenke, weswegen ich nicht recht vorankäme.
    Sie sucht in ihrer Handtasche nach Zigaretten. Sie bietet mir eine an. Ich nehme ihr die Streichholzschachtel aus der Hand und gebe uns Feuer. Unsere Köpfe sind nahe beieinander. Sie riecht nach Nivea -Creme, so hat sie immer gerochen, schon in Ungarn. Mein Vater hatte ihr die blauen Dosen besorgt, über seine »Kanäle«, zusammen mit Suppenwürfeln und Märklin -Baukästen. Dass ich schöne Haare hätte, sagt sie. Obwohl ihr Männer mit langen Haaren nicht gefielen. Ihre Stimme ist tonlos bis auf ein mitschwingendes Pfeifen aus ihren Raucherbronchien. Ich achte darauf, dass meine Stirn bedeckt bleibt. Sie betrachtet die Sommersprossen über meiner Nase. Sie erkennt mich nicht. Und sei’s auch nur, weil sie es nicht für möglich hält. Plötzlich

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