Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Birke wuchs, und war gut ausgestattet mit Werkzeug und Maschinen zur Metall- und Holzverarbeitung. Ich reparierte Sessel und Türen für Kleiderkästen, verlötete Kabel in Toastern und Radios und wechselte den Keilriemen bei der Waschmaschine aus, die in einer Ecke in der Werkstatt stand und von allen kostenlos benutzt werden durfte.
Mein Zimmer war nicht größer als die Zelle in der Schweiz, aber die Tür hatte auch innen ein Gesicht. Es war hell, hatte blassgescheuerte Dielen und ein Fenster ohne Gitter zu einem kleinen Park hinaus und war spartanisch eingerichtet. Toiletten und Duschen befanden sich am Gang. Außerdem war auf jedem Stockwerk eine Gemeinschaftsküche.
Ich immatrikulierte mich an der Universität und inskribierte in Welthandel (weil es das einzige Fach war, in dem die »Welt« vorkam), schaute auch manchmal bei einer Vorlesung vorbei, setzte mich, wenn die Tage trüb waren, in die Nationalbibliothek und las in Büchern über Astronomie, betrieb zu Hause mit Hilfe meines alten Transistorradios weiter meine Sprachübungen – Italienisch, Spanisch, Französisch, Türkisch –, schlief viel und füllte die Zeit mit dem Gefühl, frei zu sein.
Die meisten jungen Männer, die im Heim wohnten, zu zweit oder zu dritt in einem Zimmer, selten allein, wollten Priester werden und besuchten zusätzlich zu ihren Vorlesungen an der Uni das Priesterseminar; nur wenige begnügten sich mit einer Zukunft als Religionslehrer. Zwei, fand ich bald heraus, hatten weiter reichende Ambitionen, sie strebten Universitätskarrieren an. Der eine wollte ein berühmter Moraltheologe, der andere ein berühmter Dogmatiker werden; sie waren in Vorbereitung, um in den Jesuitenorden einzutreten. Vor diesen beiden, flüsterten meine Instinkte, solle ich mich in Acht nehmen – wenngleich aus verschiedenen Gründen.
An den Abenden saßen wir in der unteren Küche zusammen (in der oberen war der Wasserdruck so gering, dass es fünf Minuten dauerte, bis der Teekessel voll war), und ich fragte in die Runde, was der Grund sei, warum sie die Wissenschaft von dem Gott betrieben. Ob sie ihn schon einmal gesehen hätten. Ob er schon einmal oder zweimal oder mehrere Male mit ihnen gesprochen habe. Oder ob es jemanden gebe, für den sie geradestehen könnten, den der Gott zu ihnen geschickt habe. Darauf bekam ich nur negative Antworten. Ich sagte: »Ihr studiert also fünf Jahre lang und ergreift für ein ganzes Leben diesen Beruf, verzichtet darauf, zu heiraten und Kinder zu kriegen, und das alles für einen Mann, den keiner von euch je gesehen und je gehört hat?« – »Ja und?«, sagte einer. »Wir wissen nicht einmal, ob es ein Mann ist«, ein anderer. – »Ist es«, sagte ich, »gemessen an diesen Voraussetzungen, nicht wahrscheinlicher, dass es ihn gar nicht gibt?« Und so versuchten sie, mir zu beweisen, dass es ihn gibt. Daraus, so erklärten sie mir, bestehe im Wesentlichen die Theologie. Es waren interessante, lehrreiche Abende. Sie nannten mich einen Advocatus Diaboli . Auf ihre Frage, ob denn ich dem Gott schon einmal begegnet sei, antwortete ich, ja, das sei ich; führte freilich nicht aus, wann das gewesen war und in welcher Lage ich mich damals befunden hatte. Bis auf die zwei Jesuiten glaubten mir alle, und sie schienen sich nicht zu wundern. Einer der beiden, der Moraltheologe, war traurig, dass er mir nicht glauben konnte, und gab dafür sich selbst und nicht mir die Schuld; ich rechnete damit, dass er mich früher oder später beiseiteziehen und seinen Seelenkampf und Seelenkrampf vor mir ausbreiten würde. Er war, wie mir bald gesteckt wurde, der Zuträger des erzbischöflichen Sekretärs.
Ich glaube, ich habe dem Lerneifer dieser zukünftigen professionellen Gottesdiener ordentlich das Feuer angepustet, mehr als es Berufung, Prüfungsangst und Ehrgeiz vermochten. Am Ende nannten sie mich nicht mehr den Anwalt des Teufels, sondern den des Engels, Advocatus Angeli , weil sie der Meinung waren, ich hätte sie mit meinen Fragen, Gleichnissen und Sentenzen, wenn nicht gar zu besseren Menschen, auf alle Fälle aber zu besseren Theologen gemacht.
Ich war frei!
Und ich besaß einen Pass. Und eine Geburtsurkunde. Und einen Staatsbürgerschaftsnachweis. Und einen Meldeschein. Und eine Lohnsteuerkarte. Und eine Sozialversicherungsnummer. Ich war frei, freier als alle: Denn den, der ich nun war, hatte ich mir selbst gewählt. Den Pass trug ich eine Zeitlang immer bei mir. Er war grün und mit goldenen Buchstaben bedruckt.
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