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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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feinster Unterwäsche verfügte, sich trotzdem gern und schnell nackt machte, die Strümpfe aber anbehielt. Ihr Mann hatte mir aufgezählt, sechs verschiedene Personen zu sein; er litt darunter so sehr, dass sein Gott mitten im Dom von St. Stephan, mitten in der Heiligen Messe herabgestiegen war, um ihm ein Zeichen zu geben, das gedeutet zu bekommen der Stigmatisierte sich von mir erhofft hatte. Die Multiplizität der Persönlichkeit seiner Frau war nicht weniger fortgeschritten als seine, dachte ich mir, aber Marithér litt nicht darunter, sie war stolz darauf. Sie war Hausfrau, Gattin und Mutter; sie war meine nach Moschus duftende, erlesen gekleidete Geliebte; und sie war Tierärztin, die plumpe Bauernhosen und Bauernjanker trug, die geblähte Kühe aufstach, Schafböcken die Hoden abzwickte, Hundescheiße nach Parasiten untersuchte, Katzen die Milben aus den Ohren schabte und Pferdekrankheiten behandelte, die rätselhafte Namen hatten wie Druse, Mauke, Leist, Schale und Spat. Ich vermutete, dass sie einen oder zwei weitere Geliebte hatte, bei denen sie vielleicht nicht so raumgreifend duftete und sich nicht so erlesen kleidete, die im Augenblick etwas hintanstanden, weil ich ein Interessanter und Neuer war, auf die sie aber nicht verzichten wollte. Ich wollte ihr Gelegenheit bieten für eine weitere Sünde. Damit sie mit ihrem Mann gleichziehen könnte.
    Ich entschloss mich zur Wahrheit. Ich sagte: »Ich brauche Geld.«
    Wie ich erwartet hatte, reduzierte sich an ihr: die Farbe ihrer Haut, die Mimik, die Freundlichkeit ihrer Augen.
    »Ich will keines von dir borgen«, sagte ich. »Ich möchte, dass du mir hilfst, welches zu stehlen.«
    Die Farbe kehrte zurück. »Das hat noch nie jemand zu mir gesagt«, lächelte sie.
    »Ich meine es nicht so, wie du es verstehst«, sagte ich.
    »Wie meinst du es?«
    »Ich meine es, wie ich es sage. Kein Spiel.«
    Die Farbe blieb, die Mimik belebte sich sogar, aber die Freundlichkeit verschwand restlos aus ihrem Blick, und ihr schiefer Zahn deutete auf nichts Mädchenhaftes hin. Die Unwahrheit sei ein überwältigender Beleg für die Mangelnatur des Menschen. Es habe eine Zeit gegeben – dies hatte einer meiner Studenten herausgefunden und in einem Referat vorgetragen –, in der sei zwischen Lüge und Irrtum nicht unterschieden worden. Erzählte einer eine Geschichte und sie entsprach nicht der Wahrheit, sagte keiner, die ist gelogen; man anerkannte, dass diesem Menschen etwas fehlte und er in die Welt hinein erfinden wollte, was ihm fehlte. Marithér begriff, dass ich aus dieser Zeit stammte, dass ich uralt war. Aber dann wurde die Lüge erfunden. Als die Wirklichkeit erfunden wurde, wurde die Lüge erfunden. Die Lüge ist Diebstahl an der Wirklichkeit, so wie die Wirklichkeit eine Verkürzung, Verwesentlichung, eine Abstraktion des Paradieses ist.
    »Hast du kein Geld?«, fragte sie.
    »Keines.«
    »Wovon lebst du? Wovon hast du gelebt, seit du hier wohnst, meine ich?«
    »Du hast mich manchmal zu McDonald’s eingeladen. Manchmal habe ich in teuren Hotels gefrühstückt und die Zeche geprellt. Manchmal habe ich Münzen aus deiner Manteltasche gefischt.«
    Sie atmete schwer, hielt sich die Hand vor den Mund, um zu verhindern, dass sie hyperventilierte. »Wenn er schwul ist, gut, gut, bin ich eben eine Diebin.« So drückte sie es aus.
    Du bist eine Lügnerin und eine Mörderin, hätte ich hinzufügen wollen; komplettieren wir die Dreifaltigkeit des Bösen. Wer nicht oben steht, muss rechnen.
     

3
     
    Sie fragte, was sie zu tun habe. »Was ist mein Part?«
    Ich hatte keine Idee. Dabei ist es geblieben. In ihren Manteltaschen waren von nun an keine Münzen mehr. Und ihre Besuche wurden seltener.
    Knapp vor Weihnachten kam ich am Abend nach Hause und fand einen Brief unter der Tür durchgeschoben. Er war von Marithér – oder von Gert? –, war auf einem Computer getippt und ausgedruckt und nicht mit der Hand unterschrieben – nur: »Die Mangers«. Sie teilten mir mit, dass ich bis Ende Februar aus der Wohnung ausziehen müsse, weil »Eigenbedarf bestehe«.
    Der Tierarzt war seit längerem nicht mehr an den Mittwochabenden im Wickerl aufgetaucht, und besucht hatte er mich auch nicht mehr. Ich sah ihn nicht wieder. Und die Tierärztin sah ich auch nicht wieder.
     
    Auf dem Naschmarkt verwickelte ich einen Händler in eine Diskussion darüber, ob von den getrockneten Ananas die wunderbar gelb leuchtenden besser oder weniger gut schmeckten als die unansehnlichen

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