Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
gefahren. Später in seinem Leben habe er Morde begangen, mehr als zwei, mehr als drei, mehr als vier, er wollte mir nicht sagen, wie es gewesen war, warum und wo, er kicherte, als würde er von seinen Alkoholräuschen erzählen. Keiner dieser echten Morde habe ihm ein schlechtes Gewissen gekostet, die falschen Morde aber schon. Er habe es nie verwunden, dass er auf Tote geschossen habe. Mit Geheimdiensten hatte dieser Mann in seinem Leben nichts zu tun gehabt; niemand hatte ihn fürs Morden ausgebildet, niemand hatte ihm Tipps gegeben, wie das schlechte Gewissen zu überlisten wäre. Von den großen Morden in der Welt hatte er keine Ahnung.
Zweimal in der Woche, immer nachmittags, besuchte mich Marithér. Ich genoss diese drei Stunden sehr. Ich gebe zu, auch weil ich hinterher zum Essen eingeladen wurde. Die Frage nach Lüge oder Wahrheit stellte sich nicht; wir erzählten einander, aber nichts, was der eine gegen den anderen je verwenden könnte; wir liebkosten einander nicht, wir genierten uns vor Küssen, aber der Sex tat uns sehr gut.
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Mein größtes und einziges Problem war das Geld.
Einmal: Es war ein Samstag und ich wusste, Marithér würde mich heute nicht besuchen und morgen nicht besuchen, und ich würde heute nicht und morgen nicht zu McDonald’s eingeladen. Mein Kalorienbedarf würde also nicht gedeckt werden. Die letzten beiden Male war sie nach dem Sex eingeschlafen und hatte es hinterher eilig gehabt, so dass wir das Essen »verschieben« mussten. Das hatte mich verstimmt.
Ich ging ins Café des Hotels Imperial . Ich gab meinen Mantel nicht in der Garderobe ab, ich erinnerte mich, in diesem Haus wollte die Garderobiere gleich bezahlt werden. Ich war außer mir, jeder Tritt, jede Handbewegung war mit Unsicherheit und Ungenauigkeit und einem inneren Flattern getan. Zudem befand ich mich in jenem Zustand schlechter Laune, der – so meine Beobachtung an mir selbst – nach etwa vier Tagen Hungern seinen Höhepunkt erreicht, ehe Lethargie und Stumpfheit den Mann einfangen und knebeln und seine Gedanken zäh fließen lassen wie Sirup. Ich trug meinen braunen Anzug mit dem feinen Fischgrät, in dem ich erfahrungsgemäß dem Klischee des wohlhabenden Exzentrikers nahe war, und war zu vielem entschlossen, voll Trotz, aber auch voll Vertrauen, der Gott werde mich nicht verhungern und nicht verzweifeln lassen; wobei das Vertrauen von der massiven Forderung, er möge sich endlich in einem etwas großzügigeren Maß um mich kümmern, nicht zu unterscheiden war. Ich bewegte mich langsam, damit mir nicht schwindelig würde und meine Erscheinung nicht an einen Irren denken ließe, aber auch nicht zu langsam, was womöglich den Eindruck des Betrunkenseins erweckt hätte. Ich bildete mir ein, unangenehm zu riechen. Obwohl ich mich ausgiebig geduscht und abgeseift hatte. Meine Mundhöhle fühlte sich pelzig an, die Zunge hatte jede Geschmeidigkeit verloren. Der Hals war ein offenes, trockenes Rohr hinunter in den Magen. Wenn man hungert, soll man Petersilie kauen, das wirke gegen den Mönchsatem. Bei mir reichte es nicht einmal für Petersilie.
Es war zehn Jahre her, seit ich das letzte Mal in diesem edlen Haus gewesen war, und es war sehr unwahrscheinlich, dass mich ein Kellner oder ein Gast kannte. Ich achtete dennoch darauf, in niemandes Blickfeld zu geraten; ich bin der Typ, der angesprochen wird; ich musste mich vor Missverständnissen und Anbiederungen hüten, in meinem Zustand neigte ich zu aggressiven Antworten und zu Gewalt. Ich sagte zum Kellner, ich nähme das Frühstück vom Buffet, bestellte Tee und Kaffee und eine heiße Schokolade. Ich ließ mir ein Omelett aus vier Eiern mit Paprika, Zwiebeln, Tomaten, Champignons, Käse und Schnittlauch braten, häufte auf einen Teller Schinken, Bratwürstchen, Käse, Tomaten, Gurken, Leberwurst, Brot, viel Brot und Butter, auf einen zweiten French Toast mit Ahornsirup und einer Handvoll kross gebratener Speckscheiben, schenkte mir ein Glas Grapefruitsaft ein, trank es am Buffet im Stehen, ein nächstes Glas, diesmal Orangensaft, ein weiteres Glas, diesmal Ananassaft, auch eine Flöte Sekt genehmigte ich mir, um meinem Kreislauf den Startkick zu geben. Ob ich ein kleines, kurz angebratenes Steak haben könnte, fragte ich nach diesen ersten Gängen. – Meine schlechte Laune war triumphal besiegt. Wenig ist nötig, um aus mir einen guten Menschen zu machen (ich bin tatsächlich der Meinung, guter Mensch, gutes Essen und gute Laune bedingen einander
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