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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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vor ihren Eltern aussprach, hatten ihre Lippen gezuckt. Nun war sie eine alte Frau – wenn sie noch lebte. Ich war mir damals sicher gewesen, dass sie die Begegnung mit mir ihr Leben lang nicht vergessen würde. Das hatte mich mit dem befriedigenden Gefühl einer erwachsenen Abgebrühtheit erfüllt. Ich wünschte, ihr zu begegnen. Sie würde mich zum Essen einladen, weil sie verstünde, dass ich noch immer ein Vagabund war.
    Was war das Beste, das Sie je in Ihrem Leben gegessen haben?, würde sie mich fragen, denn sie würde mich gern zum Besten einladen.
    Spiegeleier mit Speck, würde ich antworten, dazu Butterbrot und Tomate, Senfgurke und einen Apfel, Quellwasser, und nicht vergessen: Walnüsse.
    Mein Köstlichstes, würde sie erzählen, um meinen Appetit zu steigern, mein Köstlichstes war ein deutsches Menü. Man glaubt es kaum, gelten die Deutschen doch als mittelmäßige Köche. Ein Rheinischer Sauerbraten, stellen Sie sich vor, mein lieber Freund, ein Schulterstück vom Rind vier Tage in Rotwein eingelegt, die Soße mit Lebkuchen eingedickt und mit halbierten Haselnüssen und Rosinen verfeinert, dazu Blaukraut mit Äpfeln und einen Serviettenkloß mit Muskatnuss und viel gehackter Petersilie. Und Weißwein. Sicher ein Stilbruch: Rotweinsoße und Weißwein. Aber es muss Weißwein sein. So sind die Deutschen. Zum Nachtisch Apfelmus, simples Apfelmus mit einer Haube Preiselbeerkompott. So sind die Deutschen. Wenn Sie mich jetzt zum Essen einladen könnten, mein Freund, was würden Sie für mich kochen?
    Eine toskanische Brotsuppe, pappa al pomodoro , mit fein geschnittenen Tomaten und Stangensellerie und mit Mozzarella überbacken, würde ich antworten.
    Und das wäre alles?
    Ja! Ja! Davon aber eine große Schüssel, die nie leer wird. Eine Zauberschüssel.
    Ich schlief ein mit dem Gefühl, zu viel gegessen zu haben. Ich träumte von nackten Menschen, über die noch nicht entschieden war, ob sie essen oder gegessen würden; Gesichter, Stimmen, Thoraxe, Hände, Schenkel verschmolzen zu einer hautfarbenen, murmelnden Mauer. Am Morgen war mir, als hätte ich einen fremden Traum geträumt. Ich fand in der Bettritze eine Zigarette. Mir wurde schlecht davon.
    Eine Woche lang aß ich nichts. Lag nur im Bett.
     
    Ich hatte nicht einmal Geld, um zu telefonieren. Mitte Jänner stapfte ich durch Schneeregen am Ring entlang, vorbei am Parlament und am Naturhistorischen und am Kunsthistorischen Museum, der Weg schien mir endlos, ging weiter zur Oper und weiter am Ring entlang, überquerte den Schwarzenbergplatz, ging durch den Stadtpark, bis ich endlich das Gebäude des Finanz- und Gesundheitsministeriums erreichte.
    Im Vorzimmer des Vorzimmers des Ministers für Gesundheit hieß es, Dr. Wolfram sei nicht im Haus, ein Termin wäre frühestens in drei Wochen möglich. Ich sagte, ich käme morgen am Vormittag wieder, mein Anliegen sei in einer Minute erledigt. Das habe keinen Sinn, wurde mir geantwortet. In Ordnung, käme ich morgen am Nachmittag wieder, sagte ich. Ich solle ihm einfach glauben, sagte der Herr im Vorzimmer des Vorzimmers, und die Dame neben ihm nickte, auch morgen Nachmittag habe der Minister keine Zeit. »In Ordnung, komme ich übermorgen«, sagte ich. »Richten Sie Dr. Wolfram aus, sein Schutzengel sei hier gewesen.« Der Herr nickte und notierte, was leicht zu merken war.
    Ich kam wieder und wurde vorgelassen.
    »Ich habe extra für dich einen Termin abgesagt«, empfing mich der Minister. Ich erinnerte mich nicht, dass wir per du waren. »Was kann ich für dich tun?«
    »Ich habe Hunger«, sagte ich.
    Wie ich das meinte.
    Wörtlich.
    Er hatte abgenommen, sein Gesicht hatte eine gesunde, ebenmäßig bleiche Farbe. Er laufe fünf Mal in der Woche eine Stunde, sagte er. Er trug keine Krawatte, die oberen beiden Knöpfe seines Hemdes waren offen, darunter hatte er ein grellrotes T-Shirt. Er rief seinen Sekretär und trug ihm auf, mir einen Monatsblock mit Essenskarten für die Kantine der beiden Ministerien auszuhändigen. Der Sekretär verschwand kurz und übergab mir ein Kuvert, machte aber den Minister – nicht mich! – darauf aufmerksam, dass die Kantine heute bereits geschlossen habe und dass samstags und sonntags kein Betrieb sei. Dr. Wolfram zog seine Brieftasche heraus, darin war aber kein Geld, nicht ein Scheinchen, er öffnete sie vor mir, Kreditkarten steckten in den Fächern, aufgereiht wie die Muster eines Vertreters für Tapeten. Er rief noch einmal den Sekretär und bat ihn, er möge ihm

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