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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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François Damiens, sondern Psychologen vorgeführt und in Anstalten für psychisch abnorme Rechtsbrecher eingeliefert und dort lebenslang bei kalorien- und vitaminreicher Kost behandelt. Wir kümmern uns mit besonderer Aufmerksamkeit um Kinder und Alte; Behinderte zu pieksen oder auch nur auszulachen, gilt als besonders niederträchtig. Wenn alkoholisierte Jugendliche in der U-Bahn einen Mann zu Tode prügeln, weil er keine Zigaretten für sie hatte, singen Zeitungskommentatoren das Klagelied, was diesen Kindern von der Gesellschaft angetan wurde, dass sie so werden mussten. Dieser Gewaltverzicht ist beispiellos in der Menschheitsgeschichte, und dennoch erscheint er im Vergleich zu unseren Ansprüchen immer noch dürftig. Unser Wunsch, jegliche Gewalt, die nicht durch eine unabhängige, mehrfach abgesicherte, demokratische Justiz legitimiert ist, restlos auszumerzen, grundiert unsere Weltbilder. Andererseits: Zu keiner Zeit sind so viele Menschen durch kriegerische Gewalt, durch Pogrome, durch eine gezielte Politik des Hungers, durch politische, religiöse und ethnische Verfolgung, Holocaust, Holodomor, Nanking, Killing Fields, Völkermord in Ruanda, Srebrenica, durch Plünderung und Ausbeutung umgebracht worden wie im 20. Jahrhundert. Mit Stalin hatte Roosevelt gescherzt, hatte ihn »Uncle Joe« genannt, fand ihn gemütlich und sympathischer als Churchill, und 1943 bei der Konferenz von Teheran hatte er ihn (darauf pochte meine Freundin Dr. Birgit Jirtler, die menschenliebende Ur-Kommunistin und Professorin für Biologie an der Humboldt-Universität zu Berlin) mit folgenden Worten begrüßt: »Wir heißen ein neues Mitglied in unserer demokratischen Familie willkommen!« Hätte sich derselbe Roosevelt lachend zum Beispiel mit der Mörderin und drogensüchtigen Prostituierten Toni Jo Henry fotografieren lassen? Sie hatte nur einen Menschen erschossen, einen einzigen, und war dafür im Jahr der Teheraner Konferenz auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden. Stalin hatte Millionen Morde befohlen und als junger Bandit wahrscheinlich selbst etliche begangen – er war auch am Tod meines Großvaters schuld. Und Roosevelt hatte immerhin den Auftrag zum Bau der Atombombe erteilt. Und Churchill hatte den Befehl ausgegeben, alle deutschen Städte über einer gewissen Einwohnerzahl dem Erdboden gleichzumachen. Wie geht das? Einem konventionellen privaten Mörder wie mir und konventionellen privaten Mörderinnen wie Marithér Manger oder Toni Jo Henry soll die Scham über Hunderte Millionen Ermordeter aufgebürdet werden? Nur weil wir nicht in der Königsloge des Welttheaters sitzen? Ich weiß schon, Sie meinen, ich betriebe hier Satire, ich überspitzte, um Sie herauszufordern. Trotz all der Leichenberge im Rücken, bei deren Produktion kein allzu großes schlechtes Gewissen und keine allzu pfeffrig brennende Scham angefallen waren, können Sie sich ein moralfreies Sprechen über Mord ohne satirische, also moralisch umso rigidere Hintergedanken nicht vorstellen. Sie meinen, ich möchte Sie schockieren. Aber warum sollte ich das? Und warum gerade Sie? Ich kenne Sie nicht. Sie sind weit von mir, in Raum und in Zeit. Ich könnte Ihren Schock nicht genießen – falls ich so etwas im Sinn hätte. Ich bin allein, während ich dies schreibe, lebe in der Abgeschiedenheit. Ich war vor einigen Jahren gemeinsam mit einem Mann in einem Abteil im Zug von Moskau nach Jekaterinburg gesessen, wir waren über die Nacht gefahren, hatten uns am Wodka gewärmt, und er hatte mir sein Leben erzählt. Er war in einem Dorf im Ural aufgewachsen. Als Dreizehnjähriger war er Zeuge eines Massakers geworden. Zwei verfeindete Familien hatten einander eine Schießerei geliefert. Dabei war niemand am Leben geblieben. Die Verwundeten waren am Ort des Geschehens gestorben. Es war niemand mehr da, der die Miliz oder die Sanität hätte rufen können. Das Haus, vor dem das Massaker stattfand, lag außerhalb des Dorfes, und er, erzählte mir der Mann, war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, als die ersten Schüsse fielen. Er sei zu aufgeregt gewesen, um sich zu verstecken. Als alles vorbei gewesen sei, als niemand mehr geschrien oder gestöhnt habe, sei er zwischen den Toten hindurch über den Hof gegangen. Irgendetwas in ihm habe ihm befohlen, den Toten die Pistolen aus den Händen zu winden, und dasselbe in ihm habe ihm befohlen, auf die Toten zu schießen. Auf jeden Toten habe er ein paar Schüsse abgefeuert, dann sei er mit dem Fahrrad nach Hause

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