Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
gegenseitig).
Der Kellner jedenfalls war begeistert von mir; von der Figur her hielt er mich für einen Filmschauspieler, vom Gesicht her für einen Wissenschaftler oder einen Schauspieler, der einen Wissenschaftler spielte, oder einen Schriftsteller oder einen Schauspieler, der einen Schriftsteller spielte. Er lächelte, als wisse er die Ironie der Situation zu schätzen. Wir sprachen Englisch miteinander, kurz wechselte ich ins Französische; er hielt mit und war noch mehr begeistert, nun auch von sich selbst. Zwei Drittel seiner Zuvorkommenheit rechnete ich freilich meinem Anzug an. Zum Nachtisch aß ich das nicht genug zu lobende, kalorienreiche Müsli, darein mengte ich frisch geschnittene Früchte, Ananas, Birnen, Äpfel, Kiwi, Mangos und in Saft eingelegte Mandarinen, gleich zweimal nahm ich mir.
Es war eine Lust, und ich hatte keine Ahnung, wie ich aus der Sache herauskommen könnte.
Ich holte mir einen Stapel Zeitungen, bat im Stillen den Gott um eine Idee, und las im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen literarischen Beitrag über die Folgen der Nichtraucherschutzgesetze in den verschiedenen europäischen Ländern. Der Text war als Groteske gemeint und wahrscheinlich von einem Raucher geschrieben. Unter anderem berichtete er, dass in Irland, seitdem in Lokalen nicht mehr geraucht werden dürfe, die Zechprellerei sprunghaft zugenommen habe. Warum? Die Wirte wiesen ihre Gäste darauf hin, dass vor dem Lokal Tische mit Aschenbecher stünden, wo sie in Ruhe und legal eine anheizen dürften – etliche Gäste wurden anschließend im Lokal nicht mehr gesehen.
Genau so löste ich mein Problem, nachdem ich den Kellner um eine Zigarette gebeten hatte. – Aber ist es nicht demütigend, als sechzigjähriger Mann zu solchen Tricks greifen zu müssen, nur um sich einmal satt zu essen? Auf dem Weg nach Hause musste ich in einer Tour rülpsen; ich hatte zu schnell und zu gierig und zu viel gegessen.
Es kam vor, dass ich, während Marithér im Bett lag – auf dem Bauch, Arme und Beine vom Körper abgespreizt, der Hintern in einen breiten Frieden versunken –, nicht zur Toilette ging, wie gemurmelt, sondern in der Garderobe in ihrem Mantel nach Münzen suchte, um mir davon am nächsten Morgen zwei oder drei Semmeln zum Frühstück zu kaufen.
Ich hatte sie im Verdacht, sie wisse genau, wie es um mich stand. Einmal schlug sie ein Spiel vor. Wir könnten so tun, als wäre die Wohnung ein Puff für Frauen, ich sei ein fix angestellter Gigolo, sie eine Freierin, sie zahle für Sex. Ich sagte, solche Spiele ekelten mich an. Sie wurde rot, ihre Lippen zitterten, sie entschuldigte sich, sagte, sie habe es nicht böse gemeint. Von nun an redeten wir beim Sex nicht mehr. Es war ohnehin schon weniger geworden und auch immer weniger originell, wir hatten begonnen, uns zu wiederholen.
Sie war einundzwanzig Jahre jünger als ich, aber oft verhielten wir uns, als wäre ich ein Teenager und sie würde mich in die Welt und in die Liebe – und auch in die Lüge – einführen. Am Anfang hatte ihr das gefallen. Nun nicht mehr. Sie wollte gehalten und gestreichelt werden.
»Du besitzt eine Jugendlichkeit, als wärst du fünfunddreißig«, sagte sie. »Stell dir vor, ich wäre vierzehn!«
Sie wollte, dass ich mir Komplimente ausdenke, nie gehörte, nie gelesene. Sie wollte kindisch sein. Ich wollte das nicht.
Ich fragte: »Hast du wirklich deinen Schwiegervater umgebracht?«
»Natürlich nicht«, brauste sie auf.
Ich beschloss zu stehlen.
Ich wollte bescheiden und sorglos über den Winter kommen. Und mich gut ernähren. Das beste Olivenöl kaufen und nicht ein günstiges; Steaks beim Radatz und nicht bei irgendeinem Fleischhauer; im Restaurant wollte ich keinen Blick auf die rechte Seite der Speisekarte werfen. Einen neuen Anzug wollte ich mir kaufen, ein paar neue Hemden, einen neuen Mantel, ein paar neue Schuhe. Nachdem ich schon das Imperial nicht mehr betreten durfte, wollte ich wenigstens, wann immer ich Gusto hatte, im Landtmann oder im Bristol oder im Sacher frühstücken. Ich lebte in einer kleinen Luxuswohnung in Wien im 1. Bezirk, dem Traum eines russischen Oligarchen und seiner Geliebten, und zupfte meiner Geliebten Zweieuro-, Eineuro- und Fünfzigcentstücke aus dem Mantelsack – und hatte Hunger!
Marithér erzählte mir hin und wieder von ihrem Beruf. Sie tat es, um mir zu zeigen, dass sie nicht nur der Mensch war, den ich kannte, nicht nur die Frau, die über ein großes Sortiment an
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