Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
hatte. Ich hatte sonst nichts bei mir, was ich ihm hätte schenken können. Er probierte es aus, bedankte sich und schlenderte davon, schlurfte durch das Laub, das knöchelhoch auf dem Gehsteig lag. Leider bin ich ihm nicht mehr begegnet.
Das Ministerium für Staatssicherheit zog sich über ein ganzes Stadtviertel hin, es bestand aus mehreren Gebäudekomplexen, hunderte, tausende Menschen verdienten sich hier ihr Brot. Aber denen begegnete ich nicht. Das Gästehaus lag abseits und war durch eine Fläche von den anderen Gebäuden getrennt.
Ich war allein – und war nicht allein.
Ich dachte darüber nach, was der Mensch meint, wenn er von seinesgleichen als »man« spricht. Ich kam zur Auffassung, er meint das nichtfremde Fremde. Wo immer ich mich aufhielt, wohin immer ich mich bewegte, über die Straßen, auf den Plätzen, zwischen den Blocks, zwischen den Schienensträngen des Güterbahnhofs nicht weit von meinem Zuhause, wo in der Frühlingssonne zarte mannshohe Birken grünten, oder wenn ich in einem Restaurant zu Mittag aß (mit Vorliebe nach einem langen Spaziergang an der Spree entlang in einem der Restaurants des neuen Palasthotels neben dem Berliner Dom, nicht nur weil ich nach Vorzeigen meiner Sondergenehmigung nichts zu bezahlen brauchte, sondern weil dort nur alte Männer und alte Frauen saßen, die schlecht hörten und sich so laut miteinander unterhielten, dass ich lauschen konnte) – immer und überall sah ich »man«. Und »man« sah mich. Ich würde in diesem Land in dieser Zeit nicht verlorengehen, so viel war gewiss. Dabei taten meine Begleiter erst gar nicht so, als würden sie mich nicht begleiten. Sie spielten mir nichts vor. Sie waren keine Lügner . Sie grüßten mich mit Kopfnicken. Zu lächeln gestatteten sie sich nicht – ich nahm an, aus den gleichen Gründen, über die ich ausführlich gemutmaßt habe, als ich von Oberleutnant Erika Stabenow von der Grenzbrigade 13 erzählte. Ich war der, in dessen Adern heiliges Blut floss. Ich sollte beschützt, aber nicht belästigt werden. Auch ein Lächeln kann belästigen – wenn »man« lächelt.
Einmal war ich von einem Funktionär, ich weiß seinen Namen nicht mehr, gefragt worden: »Aber Herr Dr. Koch, Herr Dr. Ernst-Thälmann Koch, verzeihen Sie, warum, das würde uns wirklich sehr interessieren, warum steht in Ihrem Pass, Sie seien Theologe von Beruf? Es ist, ehrlich gesagt, in einem Land wie dem unsrigen nicht unbedingt vorteilhaft, an Gott zu glauben.«
»Das kann ich gut verstehen«, habe ich geantwortet, »und ich will mich gern erklären. Meine Großmutter, wissen Sie, hat in ihrer Berliner Zeit, wie erwähnt, an der Universität Ägyptologie studiert. Sie hat an einer wissenschaftlichen Studie über den Pharao Echnaton gearbeitet, den größten antiken Revolutionär vor Spartakus. Leider hat sie wegen der Nazis ihre Arbeit nicht zu Ende bringen können, wie es der Wunsch von Ernst Thälmann, meinem Großvater, gewesen war, der wie alle wahren Sozialisten großen Wert auf Wissenschaft und Bildung legte. Und meine Mutter war eine vielbeschäftigte Frau, die in dem kleinen Betrieb meines Vaters mitarbeiten musste, weil er sich einen Angestellten für die Buchhaltung nicht leisten konnte. Es ist ihr leider nicht gelungen, den Faden der Wissenschaft aufzunehmen. So lag es an mir, dieses Erbe anzutreten. Ich habe die Arbeit meiner Großmutter über den Pharao Echnaton, den Erfinder der Moral, abgeschlossen und sie als Dissertation eingereicht. Der Lehrstuhl im Fachbereich Ägyptologie war zu dieser Zeit in Wien aber vakant, weil sich der Professor einige sehr unerfreuliche Dinge hat zuschulden kommen lassen. So habe ich, aufbauend auf den Vorarbeiten meiner Großmutter, eben bei den Theologen promoviert. Die Ehre der beiden Buchstaben mit dem Punkt vor meinem Namen gebührt mir also nur zu Hälfte – oder eigentlich nur zu einem Drittel, denn dass diese Arbeit auch in der dritten Generation nicht aufgegeben wurde, verdankt sie letztendlich niemand anderem als Ernst Thälmann. Als Enkel des größten Helden der Deutschen Demokratischen Republik glaube ich natürlich nicht an den Gott. Ich würde nicht einmal an ihn glauben, wenn er mir unter einer Straßenlaterne begegnete.«
4
Nach dem Frühstück verließ ich das Gästehaus – das Frühstück stand jeden Morgen vor meiner Tür auf einem Tablett, eine Kanne Filterkaffee, Brötchen, Butter, rote oder gelbe Marmelade (ich wusste nicht, wer sich um mich kümmerte) –
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