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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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hörte, sagte ich: Sollte es nicht heißen, wir be -stehen aus dem Staub? Aber mir wurde versichert, es heiße ent -stehen. Nämlich: wenn wir aufhörten, unseren Weg zu gehen, wenn wir auf der Stelle verharrten, wirbelten wir keinen lebensspendenden Staub auf und würden logischerweise vergehen. Oder anders: Vielleicht sind wir Licht, nur Licht, das sich ins Leere verströmte, wenn da nichts wäre, auf das es scheinen könnte. Ich habe mich mit Sebastian darüber unterhalten. Er mag diese Art von Philosophie nicht. Wahrscheinlich, weil sie seine Art zu leben beschreibt. Das ist eine philosophische Anwandlung und keine Philosophie, sagt er und vergisst, dass ohne philosophische Anwandlungen der Mensch nie auf die Idee gekommen wäre, Philosophie oder gar Theologie zu betreiben. Sebastian führt ein gehendes Leben. Wer geht, schaut immer ein Stück weit vor seinen Schritt; sein Auge, sein Herz, sein Sinn sind immer in der Zukunft. Und die Vergangenheit wird nach Maßgabe der Zukunft geschrieben. »Wenn ich zurückblicke«, sagte er einmal (ich habe es an anderer Stelle in indirekter Rede zitiert), »treffe ich an jeder Station auf jemanden, den ich in enervierender Arbeit erst umschreiben muss, um ihn Ich zu nennen.« Wie ist das, wenn man in solchem Geist lebt? Ich weiß es nicht. Mir ist die Zukunft ein leerer Schacht, und weil er leer ist, enthält er weder Bangen noch Hoffen. Die Vergangenheit aber zeigt sich mir nicht weniger gegenwärtig als die Gegenwart selbst. Ich »treffe« mich dort nicht, ich bin dort . Und ich bin dort nicht anders, als ich hier und jetzt bin. Die Vergangenheit ist die Gegenwart eines Gedankens. Ich bin von ihr nicht getrennt durch Stunden, Tage, Jahre. Ich habe keine zählende Seele nötig, um mich durch die Zeit zu bewegen. Und doch denke ich mir immer wieder: Was jetzt ist, was jetzt passiert, war vor einer Stunde, vor einem Jahr, vor zwanzig Jahren die Zukunft gewesen. Und dieser Gedanke ist nicht so banal, wie er erscheint. Denn entgegen aller Vernunft sagt mein Empfinden: Sie war in der damaligen Gegenwart enthalten. Warum hast du sie nicht gesehen?
     
    In den Ruhepausen unserer mexikanischen Vergeblichkeiten würde ich Janna von diesen Vormittagen in dem kleinen, wohltuend ungepflegten Park erzählen. Diese Geschichten hörte sie sehr gern. Am liebsten hörte sie Geschichten, in denen nichts passierte; in denen niemand einen Namen hatte und die irgendwann nirgendwann irgendwo nirgendwo spielten. In denen ein Mann auf einer Parkbank sitzt und durch ein Fenster Vater, Mutter, Tochter, Sohn beim Frühstück beobachtet. In denen nichts passiert als: Butter und Marmelade werden aufs Brot geschmiert, Kaffeewasser wird aufgegossen, Kaffee mit Milch wird getrunken, ins Brot wird gebissen. Und nicht einmal das passiert, sondern nur das Beobachten passiert. Und nicht etwa ein interessiertes Beobachten passiert, sondern ein nachlässiges, schon am Morgen wieder müdes, alles gleichgültig hinnehmendes Beobachten. Nur solche Geschichten ertrug sie. Die beruhigten sie. Da würde ich Janna in Wien wiedergefunden haben, ein enges kurzes Jäckchen aus rosa Kunstleder hatte sie übergezogen, darunter nur ein T-Shirt, und einen kurzen Rock aus rotem Samt oder einem ähnlichen Material, gute vierzig und gute fünfzig Jahre alt würden wir beide inzwischen geworden sein; ich: geflohen aus dem Paradies nahe der chinesischen Grenze, sie: abgemagert, grau unter den schwarz überfärbten Haaren. Auf den letzten Strich ging sie, um sich ihr Gift zu finanzieren. In einer aufgelassenen Garage würde ich sie finden, wo sie ihre Freier empfing. Draußen krachten die Waggons der Güterzüge aufeinander. Ein Mann war gerade bei ihr, als ich die Tür aufstieß, der hatte sie als Draufgabe um einen kleinen Schuss gebeten, seinen ersten, er wollte es einfach auch einmal ausprobieren, er war Rechtsanwalt oder Rechtsanwaltsanwärter, hatte Geld, arbeitete in einer Kanzlei in der Innenstadt an Wirtschaftsfällen, wollte ein bisschen von der anderen Welt naschen, mehr wollte er nicht, nicht wollte er die alte Schrift auf der Wachstafel löschen. Jungverheiratet war er, und es hat ihn umgehauen, ein Viertel der Spritze hat ihn bereits umgehauen. Die Nadel steckte noch in der Vene unterhalb des Handgelenks, da hat sie sich über seine Geldbörse hergemacht. Ich sagte, lass das, Janna, lass es doch! Ich hol dich weg von hier. Lass ihn! Er ist ein armes Schwein, nicht besser dran als du. Aber Geld hat er, hat sie gesagt,

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