Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
und spazierte ziellos durch die Straßen. Ein kleiner wohltuend ungepflegter Park war in der Nähe, die Bäume trieben schon kräftig aus. Ich drückte die Nase gegen die Rinde einer Ulme. Gierig war ich nach Frühlingsduft. Ist er nicht das überzeugendste Argument für das Leben?
Ich setzte mich auf eine Bank, grau und grün von Algen war sie, suchte die Sonnenstrahlen, streckte die Beine von mir, verschränkte die Finger über dem Nabel.
Die Tage vergingen – vergehen ist ein diplomiertes Wort dafür.
Es wird geraten, in die neue Welt nichts aus der alten mitzunehmen, auch die alten Tage nicht und nicht ihre Geschwindigkeit. Auch nicht die alten Sentenzen meines Meisters. Auch nicht, wenn sie so treffend meine Abgeschiedenheit beschrieben: Die zieht den Menschen in Lauterkeit und von der Lauterkeit in Einfältigkeit und von der Einfältigkeit in Unwandelbarkeit …
Im Gästeaufenthaltsraum des Gästehauses des Ministeriums für Staatssicherheit lagen in einem lindgrün lackierten Drahtgestell geographische Zeitschriften aus, jeden Morgen klemmte ich mir eine andere unter den Arm, las darin im Park, blätterte darin. Ich entdeckte einen Tatsachenbericht über die Durchquerung der Wüste Gobi (im Sommer sind dort Temperaturen bis zu +50 Grad, im Winter bis zu – 65 Grad möglich). Eine Reportage im folgenden Heft erzählte von einer Expedition nach Nordaustlandet. Dort lebte niemand.
Wenn ich schon sehr früh unterwegs war, sah ich durch ein Fenster auf der westlichen Seite der Parks eine Familie am Frühstückstisch sitzen, Vater, Mutter, Tochter, Sohn. Die Kinder verließen wenige Minuten später das Haus, sie trugen ihre Schulranzen auf dem Rücken, das Mädchen einen mit Fell überzogenen, sie schubsten einander oder gingen schweigend nebeneinanderher oder stritten sich. Bald darauf sah ich den Vater in die andere Richtung davoneilen, den Jackenkragen hochgestellt, die Hände in den Hosentaschen. Die Mutter öffnete das Küchenfenster und streifte die Krümel aufs Fensterbrett. Irgendwann kamen die Vögel. Das war eine Zeitlang mein täglicher Fortsetzungsroman.
Ich fragte mich, für wen der emsige Vater wohl Sorge trage als einzigen Menschen in seinem Leben. Für seine Frau? Für seine Tochter? Für seinen Sohn? Oder für keinen von diesen? Hatte er eine Geliebte? Vielleicht für einen seiner Untergebenen im Büro. Oder für seinen Chef. Oder für seinen irrsinnigen Bruder. Oder seine unansehnliche Schwester? Für seinen grüblerischen Vater? Für seine Mutter? Oder hatte er den Menschen noch gar nicht kennen gelernt, der ihm anvertraut war? – Alles Alte sollte vergessen werden, rät Meister Eckhart. Will ich auf eine Wachstafel schreiben, dann kann nichts so edel sein, was auf der Tafel bereits geschrieben steht, dass es mich nicht behindert und ich nicht selber darauf schreiben kann; will ich aber doch schreiben, so muss ich alles das tilgen und auslöschen, was bereits auf der Tafel steht. Denn die Tafel schickt sich mir nimmer so wohl zum Schreiben, wie wenn gar nichts auf der Tafel steht.
Einmal setzte sich eine ältere Frau zu mir. Sie hatte sich ein Wurstbrot mitgebracht. Es roch köstlich. Wenn sie mir einen Bissen angeboten hätte, ich hätte ihn genommen. Sie beugte sich zu mir herüber, hob die Augenbrauen, linste in mein Heft und fragte, wo ich meine Schuhe gekauft hätte. Ich sagte, ich sei aus dem Westen und in diesen Schuhen hierhergekommen. Sie nickte, aß fertig und ging. Das Papier, in dem sie ihre Jause eingewickelt hatte, knüllte sie mit einer Hand zusammen und ließ es fallen. Ich schloss die Augen und versuchte, mich zu erinnern, wie sie ausgesehen hatte, was sie getragen, wie ihre Stimme geklungen hatte. Nichts mehr fiel mir ein. Ich wertete das als: ein gutes Zeichen.
Ich bin langsam geworden, sagte ich mir.
Und dachte: Wenn eine Amtsperson daherkäme und mir den Auftrag erteilte, diesen kleinen Park sauber zu halten – nicht übermäßig zu pflegen, nur sauber zu halten, das Papier aufzulesen, die Flaschen einzusammeln, die Zigarettenkippen zusammenzukehren –, ein frischer, neuer Mensch würde aus mir werden, und nicht ein Jahr würde in dieses Land ziehen, und ich hätte meine Vergangenheit, nein, vergessen wohl nicht, aber zu den fremden Dingen geschoben wie die Handvoll Morde, die ich begangen hatte. Und meine Schuhe hätten sich dem neuen Boden angeglichen. Wir entstehen aus dem Staub des Weges, den wir gehen, heißt es. Als ich diesen Spruch zum ersten Mal
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