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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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erklärte. Nun sah ich dicht vor mir die Diensthundführerin aus Probstzella. Ich sah die Schönheit ihres Halses, ihrer Oberlippe, ihres Augenlids und das Abzeichen auf ihrer Uniformjacke. Hung deutete mir an, er lasse mich für ein paar Minuten allein, dann aber müssten wir zurück.
    Ich setzte mich auf den weichen Waldboden, kauerte mich in das Regencape und schaute. Ein Hund sah in meine Richtung und sah mir mitten ins Okular, so dass ich erschrak und meinte, er müsse mich bemerkt haben. Nachdem die Diensthundführerin einen nach dem anderen geprüft hatte, rief sie alle Hunde zu sich und streifte ihren Armschutz ab. Die Tiere drängten sich um sie, drückten die Köpfe gegen die durchnässte Uniform, jaulten und bellten und schnappten nach den kleinen Hundekuchen, die sie jedem einzelnen zuwarf, nachdem sie seinen Hals gekrault, über seinen Kopf gestreichelt, seine Flanke getätschelt hatte. Ich erinnerte mich, wie sie mit ihrem Sessel nach hinten gerutscht war, damit ihre Vorgesetzte Oberleutnant Stabenow von der Grenzbrigade 13 nicht in ihre Augen sehen konnte. Warum hatte sie das getan? Ich betrachtete das ebenmäßige, etwas breite Gesicht durch das Nachtsichtgerät, und es schien mir durchaus möglich, dass hier eine Angelegenheit war, die gut für mich ausgehen könnte.
    Da stand Hung hinter mir und legte mir seine Hand auf die Schulter.
    »Kann ich nicht zu ihr hinübergehen?«, flüsterte ich.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Warum nicht?«
    »Die Hunde würden Sie zerfleischen«, flüsterte er mir ins Ohr.
    Ich merkte, dass er unruhig war. Er nahm mir das Nachtsichtgerät ab und zog mich mit sich fort. Als wir beim Auto angekommen waren, hörten wir die Hunde hinter uns bellen. Es war ein böses Bellen. Sie hatten Gehorchen geübt, nun wollten sie jagen.
     

7
     
    Mein Leben verlor an Eindeutigkeit. Ich schlief schlecht, hatte keinen Appetit, verbog mitten auf der Straße meinen Körper, als hätte ich Bauchkrämpfe, und hielt keinen Fernsehfilm durch, und in der Nacht streifte ich als Löwe oder Bär durch meine Träume und richtete Blutbäder unter meinen Feinden an. Ich konnte mich nicht auf die russischen Vokabeln konzentrieren, nicht auf die kyrillische Schrift und nicht auf die russische Grammatik; sah keinen Sinn darin, in die Welt hinaus zu denken, wo mir schon jeder Schritt vor die Tür schwerfiel. Hung brachte mir fast jeden Tag etwas mit, das ich an die Wand hängen oder auf den Schreibtisch oder neben die Spüle stellen sollte, um meine Wohnung zu verschönern. Nachdem wir alle Menschen seien und in jedem Augenblick Mensch seien, müssten wir uns von Zeit zu Zeit von den Menschen erholen, sagte er, und wenn es uns schon nicht gelänge, unser Denken vollständig auf die Dinge zu fokussieren, was bestimmt gesünder und interessanter wäre, sollten wir uns wenigstens mit einigen schönen Dingen umgeben. Ich nahm Schönheit offensichtlich nicht wahr. Er lud mich zu einem Konzert in das Haus am Gendarmenmarkt ein, Mendelssohn-Bartholdy und Schubert. Mir war zumute wie in einer leeren Schachtel. Ich saß auf dem mit Plüsch überzogenen Sitz, umgeben von Menschen, die zur Elite dieses Landes gehörten, in deren Gesichtern, deutlich wie auf Propagandaplakaten, geschrieben stand: Gebt uns Sinn, mehr Sinn, dreimal so viel Sinn! Niemand kannte mich, niemand erkannte mich. Ich war unglücklich und hatte Sehnsucht. Oder bildete ich mir ein, unglücklich zu sein und Sehnsucht zu haben? Alles war uneindeutig geworden.
    Hung sagte wieder, er werde sehen, was sich machen lässt. »Je vais voir ce que nous pouvons faire. Я посмотрю, что мы можем сделать.« Schließlich sei er dazu da, meine Wünsche zu erfüllen. Aber ich müsse etwas Geduld haben.
    »Geduld? Etwas Geduld muss ich haben?«, brach es aus mir heraus, und diesmal nahm ich keine Rücksicht auf irgendwelche fernöstlichen Empfindlichkeiten, und ob sich ein Missverständnis an das andere reihen könnte, war mir egal, ich wollte laut werden, selbst wenn wir am Ende in Feindschaft geschieden wären. »Ich habe Geduld! Seit einem Jahr habe ich Geduld! Bin ich denn auf der Welt, nur um zu warten? Warum fragt mich niemand mehr nach meiner Geschichte? Warum bin ich nicht längst Mitglied der Deutschen Demokratischen Republik? Ich bin das Kindeskind von Ernst Thälmann! Ist Ernst Thälmann in diesem Land in Ungnade gefallen? Zählt sein Name nicht mehr? War der Pionierpalast in Wuhlheide die letzte Würdigung, die ihm zuerkannt

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