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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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man, man werde gewinnen.
    »Sie müssen sich vorstellen«, führte Hung aus, »Sie leben weit in der Zukunft und blicken zurück. Sie leben in Frieden und blicken zurück. Wie Pol Pot in seinem Dschungel. Sie können sich kaum mehr daran erinnern, was damals geschehen war. Sie sind der Älteste hier. Sie haben alle überlebt. Die anderen sind tot. Sie arbeiten ein bisschen im Garten, in der Nacht betrachten Sie ein bisschen die Sterne, und zum Zeitvertreib schießen Sie ein bisschen auf Tote. Und wenn die Toten sich bewegen – na und? Wenn sie brüllen, Befehle geben, wenn sie rennen – na und? Sie schießen auf Schattenbilder. Sie schießen auf Erinnerungen. Auf seine eigenen Erinnerungen darf der Mensch schießen!«
    Hung führte mich auch in die vietnamesische Sprache ein. Vietnamesisch zu lernen ist wie ein Musikinstrument zu lernen. Man muss üben und zuhören. Bei manchen Silben entscheidet die Tonhöhe über die Bedeutung. Es gibt bis zu sechs unterschiedliche Tonhöhen im Vietnamesischen, stellen Sie sich vor! Eigentlich wird diese Sprache nicht gesprochen, sondern gesungen. Im Vergleich zur Sprache seiner Heimat, meinte Hung, seien das Deutsche und das Französische rohe Mitteilungssysteme. Die Vietnamesen verfügten über die unterschiedlichsten Anreden, etwa der Eltern für ein Kind oder für die jüngeren Geschwister durch die älteren oder für die älteren Geschwister durch die jüngeren oder für eine unverheiratete Frau oder für eine Frau ab dreißig oder für eine Frau ab fünfzig oder für einen Mann ab fünfzig und so weiter.
    Ich lernte in vier Monaten immerhin genug Vietnamesisch, um Hung die deutschen demokratischen Fernsehnachrichten in seine Sprache übersetzen zu können. Herbst war geworden, und südwestlich vom Kap der Guten Hoffnung hatten Israel und Südafrika gemeinsam eine Atombombe getestet, eine Gruppe von Studenten hatte in Teheran die US-Botschaft besetzt und die Mitarbeiter als Geiseln genommen, der Psychoanalytiker, Astrologe und Angstforscher Fritz Riemann, geboren in Chemnitz, inzwischen Karl-Marx-Stadt, war gestorben, und in der Berliner Wuhlheide war durch die Ministerin für Volksbildung, Genossin Margot Honecker, der Pionierpalast Ernst Thälmann eingeweiht worden – es war dies die 323. öffentliche Einrichtung in diesem Land (Straße, Platz, Denkmal, Schule, Stadion, Schwimmbad, Schießstand, Kanal, Elektrizitätswerk, Kaserne, Industriekombinat, Bibliothek, Lesezirkel und so weiter), die den Namen meines Großvaters trug.
     

6
     
    Im Winter belegten Hung und ich gemeinsam einen Russischkurs. Jeden Dienstag-, Mittwoch- und Donnerstagabend ab 18:30 saßen wir in der Juristischen Hochschule in Potsdam zusammen mit zwanzig Männern und Frauen verschiedenen Alters und verschiedener Berufe in Schulbänken und büffelten unter dem Diktat von Magistra Galina Komarowa die Sprache unseres besten Freundes. In einem senffarbenen Mosquitsch 408, Baujahr 1968 , chauffierte uns Hung hin und zurück.
    Oh, das waren schöne Abende! Hung und ich lernten und bummelten, fragten einander ab oder philosophierten auf der Hinfahrt und Heimfahrt, versuchten, ohne Brett und Figuren, rein aus dem Kopf, Schach zu spielen, während er das Lenkrad in den Händen hielt, und versprachen, Freunde zu bleiben und uns nicht aus den Augen zu verlieren. Solche Sätze lassen sich in einer Sprache, die man nur wenig beherrscht, unbekümmerter sagen als in der eigenen.
    Er: »Ich werde bald nach Vietnam zurückkehren. Я скоро вернется во Вьетнам. Werden Sie mich in meiner Heimat besuchen? Будете ли вы навестить меня в моем доме?«
    Ich: »Wenn Sie es wünschen. Если вы этого хотите.«
    Er: »Ich kann Ihnen einige Tricks beibringen. Я могу научить вас некоторым трюкам. Sie werden staunen. Вы будете поражены.«
    Er sehe, sagte er, dass eine Sehnsucht in mir sei. »Que voulez-vous?«, fragte er.
    »Je veux un corps de femme«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
    »Tout est en mon pouvoir«, sagte er. Alles stehe in seiner Macht.
    Ich erzählte ihm von der freundlichen Diensthundführerin in Probstzella. Ich sagte, sie gehe mir nicht aus dem Sinn; nun schon seit einem Jahr gehe sie mir nicht aus dem Sinn. Ich sagte das einfach so dahin. Aus dem Grund, weil ich Hung nicht enttäuschen wollte. Hätte ich ihm geantwortet, er irre sich, in mir sei keine Sehnsucht, nicht die Spur davon, hätte er

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