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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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werden sollte? Warum bin ich zur Eröffnung nicht eingeladen worden? In meinen Adern fließt das Blut des Helden! Oder beschränkt sich das Andenken an meinen Großvater inzwischen auf ein rotes und ein blaues Kinderhalstuch? Braucht der Kommunismus keine Helden mehr? Marx? Weg! Engels? Weg! Lenin? Weg! Dserschinski? Wer ist Dserschinski? Lunatscharski? Wer ist Lunatscharski? Hat die Konterrevolution gesiegt, während Sie, Monsieur Nguyen, und ich Russisch lernten und seelenruhig am Prenzlauer Berg Bier tranken?«
    Er werde sich erkundigen, sagte Hung und neigte den Kopf vor mir.
    Am nächsten Tag meldete er, wobei er wieder mit gesenktem Kopf zu mir sprach, leise und ruhig, wie immer, Ernst Thälmann sei in der Deutschen Demokratischen Republik nicht in Ungnade gefallen, sein Andenken habe man nicht vergessen und es sei nicht beschränkt auf ein rotes oder blaues Kinderhalstuch. Der Pionierpalast in Wuhlheide sei nicht die letzte Würdigung für ihn gewesen, eine Brücke über die Unstrut in der Nähe von Laucha werde im kommenden Jahr eröffnet und auf den Namen Ernst Thälmanns getauft. Die Konterrevolution habe nicht gesiegt und ich sei – dies seine persönliche Meinung, gewiss aber auch die Meinung der Damen und Herren Genossen bis hinauf ins Politbüro – nicht auf der Welt, nur um zu warten. Selbstverständlich brauche der Kommunismus Helden, keine Rede könne davon sein, dass Marx, Engels, Lenin, Stalin, Dserschinski und Lunatscharski vergessen seien oder je vergessen werden könnten. Das Gleiche gelte für den Genossen Breschnew und – er erlaube sich hinzuzufügen – auch für den Genossen Ho Chi Minh. Bereits im Februar, also vor nun mehr als neun Monaten, sei eine Arbeitsgruppe innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit eingerichtet worden, die im Juli zu einer Kommission aufgewertet worden sei, die sich ausschließlich mit meinem Fall beschäftige, und im Oktober habe der Minister persönlich dieses Gremium seiner Obhut unterstellt und habe zur Eile gemahnt, damit, ehe Väterchen Frost komme, sämtliche Aspekte meines Falles geprüft seien, so dass ich vor Jahreswechsel der letzten Instanz gegenübergestellt werden könne, deren Urteil entscheide, ob ich Mitglied der Deutschen Demokratischen Republik würde oder nicht.
    »Eine letzte Instanz?«, fragte ich. »Wer ist diese letzte Instanz?«
    Hung hob den Kopf und sah mich zum ersten Mal an diesem Tag an, sein Blick war verständnisvoll misstrauisch. »Aber Herr Dr. Koch, können Sie sich das nicht denken?«
    »Nein, ich kann es mir nicht denken!«
    Hung lächelte, aber es war kein Lächeln.
    »Warum lächeln Sie, Genosse Nguyen? Bitte sagen Sie mir, warum Sie lächeln! Und sagen Sie mir, wer die letzte Instanz ist!«
    Hung lächelte und wischte einen Fussel von meinem Kragen und nickte wissend und rückte meinen Krawattenknopf exakt in die Mitte unterhalb meines Adamsapfels. »Alles wird wissenschaftlich untersucht«, sagte er. »Le sang parle à la fin. Кровь говорит в конце. Am Ende spricht das Blut.«
    »Was heißt das wieder?«
    »Ihr Kummer ist mein Kummer, Herr Dr. Koch«, sagte er. Er werde mich seinen Brüdern vorstellen. Die seien darauf spezialisiert, Dinge zu regeln. Es seien die tapfersten Männer. Sie seien vietnamesische Agenten in Kampuchea gewesen, als die Khmer Rouge den Satan spielten – »wie ihr Christen wohl sagen würdet«; sie hätten Pol Pot, dem größten Verräter des Marxismus/Leninismus, der je auf unserer Erde gelebt habe, in die Augen gesehen und ihn erkannt, obwohl Pol Pot sich als Bauer verkleidet habe, weil er unerkannt vor der vietnamesischen Armee in die Urwälder an der thailändischen Grenze fliehen wollte, eben nicht nur ein Verräter, sondern auch ein Dieb, denn er habe die Seele eines anderen gestohlen, und das sei das widerwärtigste Verbrechen, das sich denken lässt … – Die Tränen liefen über sein Gesicht. Ich fragte, ob es echte Tränen seien. Ich hatte in einem der Geographiehefte gelesen, das vietnamesische Volk habe auf hundert Jahre hinaus keine Tränen mehr. Er schüttelte den Kopf. Nein, es seien natürlich keine echten Tränen. Es seien meine Tränen. Die Liebe und die Lüge schlügen die schmerzhaftesten Wunden. Er wisse, was in mir vorgehe. »Tôi nhìn vào trái tim của bạn.«
     
    Am nächsten Tag, früh am Morgen, es war der Sonntag vor Weihnachten, Schnee lag über der Stadt, die Sonne warf violette Schatten, es war sehr kalt, klopfte es an meiner Tür, und

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