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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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begonnen, in Berlin Jura zu studieren. Deshalb sei sie mit ihren Prüfungen und Seminaren so spät dran und mit Ende zwanzig immer noch ohne ihren Doktor. Sie wolle Richterin werden. Sie wohnte bei ihren Eltern, das sei einfacher und billiger. Sie sei kein bisschen erstaunt, mich auf der Straße zu treffen. Nicht dass sie – wie ich – gewusst hätte, mich zu treffen, habe sie dennoch fest daran geglaubt, dass sie mir eines Tages wiederbegegnen würde. Berlin sei kleiner als die Welt, das sei bewiesen. Ein wunderbarer Zufall sei es dennoch.
    »Was für ein wunderbarer Zufall!«
    Wir spazierten durch die Straßen und Alleen bis hinunter zum Müggelsee, und als wir dort ankamen, hatte sie mir ihr Leben erzählt. Der See war zugefroren, Kinder ließen Steine über das Eis flitzen, die Väter brachen Steine aus dem hart gefrorenen Ufer. Elsbeth Kramer wich nicht zurück, als ich sie küsste. Deshalb beschloss ich, keine Geduld mehr zu haben, und fragte sie, ob sie meine Frau werden wolle.
    Sie sagte ja.
     

8
     
    Viele ihrer freien Stunden nützten wir, um spazieren zu gehen, mit Vorliebe am Ufer des Müggelsees; wir liefen wie Teenager, uns an der Hand haltend, durch den Spreetunnel zur Kämmereiheide und wieder zurück in den Park, frische Luft und Licht und Erdduft, wenn es in der Sonne taute, der tiefe Atem, das befriedigende Spannen in den Muskeln von Oberschenkeln und Waden. Die Platanen liebe sie besonders, sagte sie, diesbezüglich halte sie es mit meiner Großmutter – und nicht nur diesbezüglich, viele Gemeinsamkeiten habe sie entdeckt. Sie fuhr mit der Hand über den fleckigen Stamm, zupfte die feinen Schichten der Rinde mit ihren Fingernägeln ab. Ja, es sehe tatsächlich so aus, als ob die Natur Selbstmord begehe, sagte sie. (Wieder dachte ich – wie schon als Neunjähriger –, was für ein blöder Gedanke das sei, und ich warf mir vor, ihn unter die Leute dieses Landes gebracht zu haben, immerhin war ein gutes Dutzend Tonbänder mit meiner Erzählung im Umlauf.) Die Geschichte von Helena Ortmann und Ernst Thälmann habe sie tief getroffen, sagte sie. Sie bewundere meine Großmutter. Sie gebe zu, sie habe unerlaubterweise meine Erzählung auf ihren Kassettenrekorder überspielt (ein gutes Dutzend plus eins). Sie habe nicht gewusst, dass der größte Held der Deutschen Demokratischen Republik ein komischer Mann gewesen sei, das beruhige sie so ungemein, das könne ich mir gar nicht vorstellen, das ganze Land sollte das wissen, es wäre eine solche Erleichterung. Weil eigentlich sei es ein blöder Gedanke, dass die Natur Selbstmord begehe; wenn jedoch ein Clown das sage, bekomme dieser Gedanke eine dialektische Bedeutung. (Das könnte sein!) Sie habe sich immer einen komischen Mann gewünscht. Es tue ihr so leid, dass der Kommunismus noch nicht voll und ganz verwirklicht sei und dass es nach Einschätzung nicht nur der Genossen vom Politbüro der SED, sondern auch der Genossen vom Politbüro der KPdSU länger dauere, als bisher angenommen, zwischen 1980 und dem Jahr 2000.
    »Darf ich dich etwas fragen?«, sagte sie.
    »Was denn?«
    »Aber lach mich nicht aus!«
    »Ein Clown lacht aber.«
    »Er lacht nicht, er bringt zum Lachen. Das ist ein Unterschied.«
    »Sag doch!«
    »Es ist mir peinlich.«
    »Sag’s einfach!«
    »Du darfst mich dabei aber nicht anschauen.«
    »Ich drück die Augen zu.«
    »Und dreh dich weg.«
    »Also?«
    »Würde es dich stören, wenn du mir einen Kosenamen gibst?«
    »Gar nicht. Soll ich mir einen ausdenken?«
    »Nein, du sollst dir keinen ausdenken. Würde es dich stören, wenn du mich nennst, wie Ernst Thälmann deine Großmutter genannt hat?«
    »Nelke?«
    »Ja, Nelke.«
    Elsbeth erzählte mir von ihren Eltern, von ihren beiden Brüdern, die Soldaten waren wie sie, erzählte, dass der jüngere mit einer Hasenscharte zur Welt gekommen sei, die man ihm operiert habe, unter seinem Schnauzbart sehe man rein gar nichts, und der leichte Sprachfehler wirke drollig, sein Sohn, ihr Neffe, vier inzwischen, habe den gleichen Sprachfehler, obwohl keine Hasenscharte. Von Liebhabern oder Beziehungen, die sie gehabt hatte, erzählte sie nichts.
    Ich fühlte mich sehr wohl. Weil alles Bedeutung war, hatte nichts Bedeutung – ich meine: nichts Einzelnes. Der Mensch war nicht angehalten, etwas Bedeutendes zu tun; sein Leben war auch lebenswert, ohne dass er ihm Bedeutung gab. Man stelle sich diese Erleichterung vor! Weil die Zukunft wissenschaftlich garantiert war wie der Wärmetod des

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