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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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endlich, dass »ein rätselhafter Mann in unserer Republik aufgetaucht ist, der behauptet, ein Prinz zu sein« – Lachen. – »Ja, es ist tatsächlich wie im Märchen«, sagte er leise und nahe am Mikrophon. – Pause. – Und etwas lauter: »Von alters her waren es weise Frauen, die an uns die Botschaften der Märchen, die größere Geister als ich die Philosophie des Volkes genannt haben, an uns weitergaben. Und so soll es auch heute Abend sein. Ich bitte unsere hochverehrte Genossin Irma Gabel-Thälmann zu mir!«
    Kräftiger Applaus.
    Die Tochter meines Großvaters erhob sich von ihrem Fauteuil, zwei Herren waren ihr dabei behilflich, was bestimmt nicht nötig war, aber zum Attribut der weisen Märchenfrau passte, und ging tapsigen Schritts zum Mikrophon. In der Hand hielt sie ein Blatt Papier. Sie setzte die Brille auf, die an einer Schnur um ihrem Hals hing, räusperte sich, wie nicht zu überhören war, mit Absicht und Zorn und las, ohne Grußwort an die Anwesenden, ohne einen Blick auf sie, immer wieder stockend vor, was auf dem Manuskript stand:
    »Genossinnen und Genossen. Nichts ist der sozialistischen Idee … ferner als der Gedanke, aus Erbschaft könnte Vorteil … Vorteil gezogen werden. Die Zeiten des Adels sind längst vorbei. Auch die Zeiten, als der Fabrikherr die Macht über die … über die … Produktionsmittel … an seinen Sohn weitergab, sind vorbei. Und vorbei sind auch die Zeiten, in denen die politische Macht in diesem Land allein in den Händen … den Händen der Bourgeoisie … lag. Die Politiker, die Wirtschaftsfachleute, die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in unserem Land kommen … zum größten Teil … aus der Arbeiterklasse. Sie haben sich durch eigene Kraft emporgearbeitet, und ihren Töchtern und Söhnen stehen die gleichen Wege offen wie allen anderen Töchtern und Söhnen … dieses Landes. Aber der Mensch braucht Vorbilder. Vorbilder formen den Menschen zu einem besseren Menschen. In alten Zeiten waren die Götter Vorbilder … oder die Heiligen. Das war einmal. Das größte Vorbild … das größte Vorbild, das unser kleines Land hervorgebracht hat, ist mein Vater Ernst Thälmann. Tausende Kinder haben das rote Halstuch getragen, und es hat sie daran erinnert, was dieser Mann für uns getan hat. Im Gegensatz zu … zu … im Gegensatz zu Adelsprädikaten und Fabriken kann und soll dieses Vorbild vererbt werden. Vom Vater auf die Tochter und auf den Enkel. Dabei muss nicht immer der Weg … der bürgerlichen … also der sogenannten … Anständigkeit genommen werden.« – Sie erzählte von der Einsamkeit des großen Mannes in Moskau und Berlin, erzählte von der Kraft der Liebe und der proletarischen Anständigkeit und bat am Ende mich, den Enkel von Ernst Thälmann, zu sich ans Mikrophon. »Ja«, versuchte sie (wie im Manuskript gefordert) auszurufen, »mein Vater war ein großer Arbeiterführer. Aber er war auch ein Mann! Es ist mir eine Ehre, Ihnen Dr. Ernst-Thälmann Koch vorstellen zu dürfen.«
    Sie blickte mich nicht an, gab mir nicht die Hand und ging zu ihrem Sessel zurück.
    Das war so nicht geplant. Nun erwarteten die Gäste, dass auch ich etwas sagte. Ich sollte eigentlich nichts sagen. Ich sollte – nach der Regie von Minister Mielke – eine »pure Erscheinung« sein, so hatte mich Hung instruiert.
    Ich sagte nur einen Satz, leise und gefasst sprach ich: »In der Nacht«, sagte ich, »in der Nacht von gestern auf heute ist mir mein Großvater im Traum erschienen, er hat meine Hand genommen und die Finger zu einer Faust gefaltet und hat gesagt: Beter inne wiede Welt as in’n engen Buch, see de Jung un lött een fleegen.«
    Ich lächelte ins Publikum. Lange war es still. Ich sah, wie Erich Honecker nickte und wie seine Augen schimmerten und wie Erich Mielkes Unterkiefer zitterte. Und sie zeigten allen Anwesenden ihr Nicken und Schimmern und ihr Zittern des Unterkiefers. Daraufhin erhob sich tosender Applaus.
    Beim anschließenden Umtrunk raunte mir die Advocata zu – ohne sich allzu sehr um fremde Ohren zu kümmern –, Irmas Rede sei im Politbüro redigiert worden und basiere auf ihrem Entwurf. Sie habe den Daumen nach oben gerichtet. Jetzt sei ich in den Himmel unserer Republik aufgenommen. Wie ich mich hier einrichte, sei mir überlassen. Niemand außer Irma Gabel-Thälmann glaube, dass ich tatsächlich Thälmanns Enkel sei. Die liebe alte Irma glaube es und sei beleidigt. Aber darauf könne leider keine Rücksicht genommen werden. Die Genossen

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