Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Hitlerzeit loswerden. Die Tochter hieß Clara. Nach Clara Zetkin, der Revolutionärin und persönlichen Freundin von Ernst Thälmann. Das würde schon einmal passen, fänden sie. Wenn ich mich entschlösse, Clara zu heiraten, könne man mir eine Karriere an der Universität anbieten. Professor. Etwas Besseres gebe es nicht. Ein Wissenschaftler habe so ziemlich jede Freiheit und so ziemlich keine Verantwortung. Natürlich gehe man davon aus, dass der Sozialismus ewig dauere, aber angenommen, nur einmal angenommen, er dauere nicht ewig, dann dauere auch eine Karriere als Parteifunktionär oder als Generalmajor nicht ewig. Wissenschaftler aber sei Wissenschaftler. Wissenschaftler würden in jedem System gebraucht. Ich solle nur an den Nazi Wernher von Braun denken, der gleich nach dem Krieg in den USA eine blendende Karriere hingelegt habe.
Ich bat um Bedenkzeit.
ELFTES KAPITEL
1
Ich entschied mich für Clara, die Tochter von Gretel und Hagen Bertuleit.
Schwer fiel es mir, Elsbeth zu erklären, dass ich nun doch nicht sie, sondern eine andere heiraten würde. Und nicht weniger anstrengend war es, sie zu überreden, deshalb nicht mit mir Schluss zu machen. Beides gelang mir.
Was gab es drei Jahre später, im Sommer 1983 , zu vermelden: über die Welt, über die Deutsche Demokratische Republik und über mich? – Nach dreihundertfünfzig Jahren rehabilitiert die katholische Kirche unter dem polnischen Papst Karol Józef Wojtyła, genannt Johannes Paul II., den Genossen Galileo Galilei; Larry Holmes, Gärtnersohn, Linksausleger, ehemaliger Sparringpartner von Muhammad Ali, verteidigt zweimal den Weltmeistertitel im Schwergewicht, gegen Tim Witherspoon und gegen Scott Frank; die sowjetische Luftwaffe schießt bei Sachalin eine Passagiermaschine der südkoreanischen Luftlinie ab, 269 Menschen sterben; ein Sprengstoffanschlag einer terroristischen Moslemgruppe zerstört die US-Botschaft in Beirut, 66 Tote; Hitlers Tagebücher werden entdeckt, Hitlers Tagebücher werden als Fälschung entlarvt; der westdeutsche Politiker Franz Josef Strauß, Vorsitzender der Christlich Sozialen Union, CSU, und Bayerischer Ministerpräsident, vermittelt einen Milliardenkredit an die Deutsche Demokratische Republik, was in seiner Partei und darüber hinaus in ganz Westdeutschland sowie beim US-amerikanischen Verbündeten und in weiten Kreisen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf heftigen Protest stößt; der frühere KGB-Chef Juri Andropow, während des Aufstands 1956 sowjetischer Botschafter in Ungarn, wird Generalsekretär der KPdSU und als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets Staatsoberhaupt der Sowjetunion; und Dr. Ernst-Thälmann Koch wird nach zweijähriger Assistententätigkeit bei Prof. Gregor Lenz im August zum Professor ernannt – mit einunddreißig Jahren der jüngste Inhaber eines Lehrstuhls in der akademischen Geschichte der DDR (András Fülöp, András Šrámek, Andres Philip und Joel Spazierer waren vierunddreißig Jahre alt) – und bekommt die Leitung des neu gegründeten Instituts für wissenschaftlichen Atheismus an der Humboldt-Universität zu Berlin übertragen.
Ich war noch immer mit Clara, geborene Bertuleit, verheiratet (und bin es genau genommen bis heute). Unsere Tochter Dorothea, »Dortchen« genannt, wurde am 21. Februar 1982 geboren, sie war blond, hatte blaue Augen und hing sehr an mir – sie nannte mich »Babbale« und borgte sich mein Rasierwasser für die Haare ihrer Puppe aus, die sie ebenfalls »Babbale« nannte. Auch Elsbeth hatte eine Tochter zur Welt gebracht: Helena, »Lenchen«, genannt nach meiner Großmutter, geboren am 9. März 1982 , nur wenige Tage nach ihrer Halbschwester.
Ich genoss mehr als einige Privilegien. Innerhalb der sozialistischen Bruderländer durfte ich ohne Beschränkung reisen. Ich besuchte gemeinsam mit der schwangeren Clara und ihren Eltern in Prag die Oper und in der gleichen Besetzung in Tallinn ein Konzert des Staatlichen Symphonieorchesters Estlands. Ich fuhr mit der Eisenbahn von Moskau nach Jekaterinburg aus keinem anderen Grund als dem, es getan zu haben; flog auf Kosten der Universität für vier Tage nach Ulan-Bator, wo ich rein nichts tat. Ich reiste zusammen mit der schwangeren Elsbeth in einem parteieigenen Wartburg Coupé 355 mit Renaultmotor drei Wochen durch Polen, die Ukraine und Rumänien (wir aßen den besten Urda in Maramures, tranken den besten Wodka in der kleinen Stadt Zabłudów bei Białystok, schliefen miteinander
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