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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Wissenschaft und Technik sowie Kultur, weiters die Genossinnen Martha Liebenau, Esther Raab und Margarethe Scheer vom Außenministerium, vom Finanzministerium und vom Ministerium der bewaffneten Organe, die Genossen Günter Schabowski, Chefredakteur der Tageszeitung Neues Deutschland , Karl-Eduard von Schnitzler, Kommentator und Moderator der Fernsehsendung Der schwarze Kanal , Gregor Lenz, Religionsphilosoph mit einem Lehrstuhl für Marxismus-Leninismus an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, und schließlich die Genossin Gretel Bertuleit, stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats und als solche zuständig für Fragen des Bildungswesens, die darum gebeten hatte, anonym zu bleiben, was aber abgelehnt wurde, weil in diesem Falle keine Rücksicht auf Zickigkeiten genommen werden dürfe, wo es, wie im engsten Kreis der Mitglieder des Politbüros diskutiert und definiert wurde, um nichts Geringeres gehe als um die revolutionäre Idee der Errichtung einer sozialistischen Transzendenz, oder radikaler ausgedrückt: um eine kommunistische Metaphysik, aber ich verrate wohl etwas, was ich nicht verraten darf, pst, pst!« (Ende des Zitats) – also nochmals: was die aufgeführten Genossinnen und Genossen als ein Indiz für die Wahrheit meiner Geschichte werteten, nämlich, dass sich die verschiedenen Versionen höchstens durch verschieden lange Pausen und Husten hier und Schniefen dort, Wassertrinken an dieser Stelle, Zigarettenanzünden an jener unterschieden, das sei für sie nachgerade der Beweis dafür, dass ich lüge. Wobei sie klarstellen wolle, dass sie nicht zu jenen gehöre, die der Wahrheit einen übertriebenen Stellenwert einräumten. Was Wahrheit genannt werde und was Lüge, unterscheide den, der Macht habe, von dem, der keine habe – in der Welt, im Staat, im Betrieb, in der Familie, im Bett. Wahre Macht gebiete über Tod und Leben. Man müsse Verständnis dafür haben, dass niemand tot sein möchte, wenn es sich vermeiden lasse.
    Ich sagte auch dazu nichts.
    Sie wartete, nickte mir wieder aufmunternd zu und war zufrieden, dass ich nichts sagte.
    Ich sei ohne Zweifel ein exzellenter Menschenkenner, aber eben nicht exzellent genug, um sie zu täuschen. Von den feinen Fäden, die sich zwischen den Menschen spinnen, von alleine spinnen, ohne irgendein Zutun von außen, von diesen Fäden hätte ich keine Ahnung. Keine Ahnung hätte ich von der Physik der Seelen. Aber sie habe davon Ahnung, das dürfe ich ihr glauben.
    Ob sie die letzte Instanz sei, fragte ich.
    »Nein, um Himmelchristi willen, die bin ich nicht«, antwortete sie. »Ich bin die Advocata Diaboli. Sie sind hier sozusagen in der Hölle. In meinem Büro gibt es keine Fenster. Die Beleuchtung stammt von Diaprojektoren. Ich betrachte den ganzen Tag und oft noch die halbe Nacht hindurch Gesichter und suche in ihnen nach Spuren von Schuld. Draußen dreht sich währenddessen die Welt weiter – jawohl, sie dreht sich, und damit dies nicht angezweifelt und der Mensch nicht erneut in die Unmündigkeit gezwungen wird, hat der Weltgeist nach dem großen Genossen Galileo Galilei einige kleinere wie mich auf die Erde gesandt. Der Mann fährt mit der Straßenbahn, die Frau stopft Wäsche in die Wachmaschine, das Kind borgt sich von der Freundin ein Fahrrad aus. Nichts von all dem wäre möglich ohne das Gesetz. Aber das Gesetz – das wollen die Menschen draußen nicht wahrhaben –, das Gesetz beruht auf der Kenntnis der Schuld und auf nichts anderem. Aus der Krümmung eines Barthaares ziehe ich meine Schlüsse. Ich vermesse die Pupillen und setze sie in ein Verhältnis zur Höhe der Oberlippe. Ich decke den Mund ab und studiere die Augen, ich decke die Augen ab und studiere den Mund. So komme ich der Lüge auf die Schliche, ohne dass ich gleich die komplette Wahrheit kennen muss. Ich habe Zugriff auf das umfangreichste Archiv von Gerüchen. Eine riesige Halle, Regal an Regal und in jedem Regal ein Einweckglas neben dem anderen und in jedem Einweckglas ein einsamer Handschuh, aus einer Kneipe geklaut, oder eine Mütze, ebenfalls aus einer Kneipe geklaut, meistens aber schlichte graue Tüchlein, vollgefurzt oder nicht, hinten riecht der Mensch eben am deutlichsten. Was denken Sie, worauf Sie gerade sitzen? Schauen Sie ruhig nach! Ich habe nichts dagegen. Sehen Sie: ein schlichtes graues Tüchlein. Nach unserem Gespräch werde ich es mit einer sterilen Zange vom Sitz lösen und in einem Einweckglas luftdicht verschließen. Noch nach Jahren werden unsere

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