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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Spezialhunde, die von unseren Spezialausbildern und Spezialausbilderinnen ausgebildet werden, Sie unter Tausenden erkennen. Vierzig Millionen Karteikarten stehen mir zur Verfügung, das ist nicht nichts, denke ich. Ich brauche die Menschen nicht zu verstehen, es genügt mir, wenn ich sie bezeichnen kann: Faschisten und Nazis, Schwarzhemden und Braunhemden, Revanchisten und Reaktionäre, Adelige, Grundherren, Kapitalisten, Burshui und Petrinisten, Kulaken und Spekulanten, Imperialisten und Zionisten, Provokateure und amerikanische Spione, Dekadente und Diversante, Zeugen Jehovas, muslimische Terroristen, Bakunisten, Liberale, Blutsauger, Parasiten, Saboteure, Weißgardisten, Trotzkisten, Halbtrotzkisten, Vierteltrotzkisten, Achteltrotzkisten, Schwarzhunderte, Katholiken, Protestanten, Banditen, Beatniks, Rocker, Aufwiegler, Pogromisten, Relativisten und Hedonisten, Hooligans und arbeitsscheue Elemente, korrupte Elemente und Konterrevolutionäre, Neinsüchtige, Linksradikale, Doppelzüngler, kleinbürgerliche Anarchisten, hinterhältige Syndikalisten, Revisionisten und Renegaten, Formalisten und hetzerische ideologische Abweichler und selbstverliebte selbstzufriedene Bürokraten, arrogant bürgerliche Intellektuelle, wurzellose Kosmopoliten, Ärzte als Saboteure, Ärzte als Mörder, Unkraut und sozialer Müll, Abschaum, der einem den hehren Entwurf verdirbt, stumpfsinnige Steinärsche und sonstige Schädlinge, Volksfeinde und Ehemalige und vor allem Individualisten, die umherschweifen, feig, gelangweilt, verleumderisch wie ein brüllender Löwe, der sucht, wen er verschlingen könnte – plus all deren Angehörige. Und es gibt Unschuldige. Für die meisten bin ich die Stradivari unter den Arschgeigen. So what! Wie die amerikanischen Genossen sagen. Wenn ich den Daumen nach oben richte, Herr Dr. Koch, oder wie immer Sie heißen mögen, werden Sie als Enkel unseres größten Helden in den Himmel unserer Republik aufgenommen. Wenn ich den Daumen nach unten drehe, werden Sie die Sonne nicht mehr wiedersehen. Ich danke, dass Sie mich nicht unterbrochen haben, es tut gut, einmal alles sagen zu dürfen. Wollen Sie Musik hören?«
    »Muss nicht sein.«
    »Früher, wenn der Plattenspieler eingeschaltet wurde, hat man gewusst, jetzt ist das Verhör bald zu Ende. Ich werde sagen, ich sehe keine Schuld an ihm. Ich werde sagen, er ist mir sympathisch. Mir ist selten jemand sympathisch, das ist hier allerorts wohlbekannt. Ich mag es, wenn man sich vor mir fürchtet. Aber – unter uns – es rührt mich, wenn sich jemand nicht vor mir fürchtet. Fürchten Sie sich vor mir?«
    »Nein.«
    »Wissen Sie, dass dies Ihr erstes Nein war in unserem Gespräch? Auch das werde ich erwähnen. Positiv! Positiv!«
     
    Ich wurde zurück nach Berlin ins Gästehaus des MfS gebracht. Dieselben Männer, die mich abgeholt hatten, brachten mich auch wieder zurück. Nun waren sie besser gelaunt. Sie entschuldigten sich, weil sie unhöflich zu mir gewesen waren. Sie wüssten nicht, sagten sie, was in sie gefahren sei. Wahrscheinlich Überarbeitung. Sie stellten sich nun auch vor: Major Allenhöfel und Oberst Klein. Ich dürfe ganz über sie verfügen. (In den folgenden Tagen brachten sie Speck, Wurst, Bohnenkaffee, Wein, Wodka und andere leckere Sachen vorbei, dazu eine Sporttasche voll Zigarettenschachteln, lauter westliche Sorten, Marlboro , Philip Morris , HB, Stuyvesant , Gauloises .) Auf das Armaturenbrett in ihrem Wagen hatten sie ihr Motto geklebt:
     
Ein Fluss, dem die Brücken fehlen, ist etwas Erhabenes,
Eine Brücke ohne Fluss ist lächerlich.
     
    Zu Hause wartete Elsbeth. Sie hatte sich um mich gesorgt. Sie hob die Bettdecke, und ich schlüpfte zu ihr.
     

10
     
    Ich hatte mich für sehr klug gehalten. Hatte gemeint, nichts übersehen zu haben. Immer war ich stolz darauf gewesen und hatte in der Schule Bewunderung damit ausgelöst, dass ich flotter als die anderen lesen und obendrein das Gelesene bis in die kleinsten Details hinein mir merken konnte, und zwar nicht nur für ein paar Stunden wie die Vokabelgenies, sondern für immer. Ohne mich brüsten zu wollen, darf ich sagen, ich verfüge über ein außerordentliches Gedächtnis und zudem über ein jeden Intelligenzforscher Staunen machendes Talent, blitzschnell die verschiedensten Dinge ineinander zu verhäkeln – mit einer Einschränkung: Gedächtnis und Assoziationsfähigkeit funktionieren nur, wenn sie im Dienst meiner Interessen stehen. Dinge, für die ich mich nicht sonderlich

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