Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
im Politbüro seien der Meinung, der Sozialismus trete in eine neue Phase ein, in der es nicht in erster Linie darauf ankomme, Macht und Glorie zu erobern, sondern Macht und Glorie zu bewahren, nicht die Zukunft zu verklären, sondern der Vergangenheit Glanz zu verleihen. Dass also dem Erbe nicht nur wie bisher praktische und propagandistische Funktion zukomme, sondern eine in einem dialektischen Sinn mythische Erhebung zuzumuten sei. Unter diesem Aspekt betrachtet, eigne sich ein junger, strahlender, intelligenter Mann wie ich tausendmal besser, das Erbe Ernst Thälmanns weiterzutragen, als eine liebe alte Tante, die in einem lieben alten Büchlein liebe alte Anekdötchen erzähle und damit auf einer lebenslangen Tournee durch die Republik reise und die Jugend zu Tode langweile.
Was soll ich sagen – von nun an war ich ein begehrter Mann. Genosse Minister Mielke schlug vor, ich solle ihn Erich nennen. Tat ich. Ich sagte »Erich«, blieb aber beim Sie. Das kam an. Die ideale Mischung aus Nähe und Distanz. Wer die trifft, weiß, was Charisma ist. Wer ein Erbe zu tragen hat, der ist mit Charisma breit ausgestattet. Ich wurde von den Honeckers zu Kaffee und Kuchen eingeladen, am Sonntagnachmittag. Wir saßen auf der Terrasse. War sehr nett.
Und ich wurde auch von anderen eingeladen.
Zum Beispiel vom Genossen Generalmajor Walfried Geyer und dessen Frau Erika. Sie hatten eine Tochter. Zweiundzwanzig Jahre alt. Pummelig, was mir gefiel. Traurige Mundwinkel. Ihren Namen habe ich vergessen. Ihre Mutter bestand darauf, mich nach dem Abendessen mit dem Wagen in die Stadt zu fahren. Ich wohnte damals noch im Ministerium. Auf dem Parkplatz im Mondschein schaltete sie den Motor ab. Sie wolle nicht herumreden, sagte sie. Sie und ihr Gatte hätten großes Interesse, dass ich ihr Schwiegersohn würde. Ein Thälmann in der Familie, das wär etwas! Ich solle es mir überlegen. Wenn ich zusage, sei mir eine militärische Karriere bis hinauf zum Rang ihres Mannes garantiert. Oder höher. In einem Land wie der DDR genieße der Soldat großes Ansehen, es lebe sich zufrieden als ein Soldat höheren Ranges, eine günstigere Situation als den Kalten Krieg lasse sich für einen Soldaten höheren Ranges nicht denken, und der Kalte Krieg werde ohne weiteres weitere hundert Jahre dauern, der Kalte Krieg sei Krieg und Frieden gleichzeitig in einem, jedes Bedürfnis werde bedient, warum solle so ein Zustand enden. – Ich sagte, ich wolle mir ihr Angebot überlegen. Frau Geyer gab mir einen Kuss auf die Wange.
Eingeladen wurde ich auch von der Genossin Gudrun Ernst, der Büroleiterin des Politbüros des ZKs der SED. Sie war eine geschiedene Frau um die fünfzig mit einer Tochter um die dreißig. Ruth sehe »umwerfend« aus – Werbetext ihrer Mutter, da hatte ich ihre Tochter noch nicht gesehen –, sie sei groß und habe lange glatte Haare »wie eure Françoise Hardy und auch so einen Mund«. Genossin Gudrun Ernst war eng befreundet mit der Genossin Margot Honecker, und sollte es zu einer Heirat zwischen mir und ihrer Tochter kommen und sollte daraus Nachwuchs entstehen, würde Margot die Taufpatin sein, Margot und Erich, beide. Was das bedeute, könne ich mir denken. Erich Honecker sei ein grundanständiger, herausragender deutscher Politiker, das werde inzwischen auch vom westlichen Ausland bestätigt, aber er sei nicht der Gesündeste. Es sei keine haltlose Spekulation: Bereits der nächste SED-Chef und somit auch der nächste Staatsratsvorsitzende könnte Dr. Ernst-Thälmann Koch heißen. – Ich sagte, ich wolle darüber nachdenken.
Die dritte Einladung führte mich ins Haus der Genossin Gretel Bertuleit, der stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats und dort zuständig für Fragen des Bildungswesens. Sie bot mir von ihren Philip Morris an, und wir qualmten um die Wette. Ihr Mann Hagen war ein hohes Organ der Außenhandelsstelle der DDR, mindestens einmal pro Monat fuhr er in den Westen, in die Bundesrepublik, nach Frankreich, Holland, Dänemark, Finnland, Italien, aber auch nach Österreich und selbstverständlich in die sozialistischen Bruderländer wie Polen und Ungarn, geplant seien Reisen nach Mosambik, in die Volksrepublik Jemen und den Irak. Nebenbei handelte er mit Antiquitäten, allerdings nur in eine Richtung, von Ost nach West, nie umgekehrt. Viele DDR-Bürger seien der Meinung, dass eine neue Gesellschaft auch nach neuen Möbeln verlange, und sie wollten deshalb ihre alten Dinger aus der Kaiserzeit oder der
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