Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
interessiere, merke ich mir schlecht; an Personen, von denen ich mir nichts verspreche, erinnere ich mich nicht; Schlussfolgerungen, die mir nicht nützen, bringe ich nicht zu Ende. Ich bin ein gesegneter – Egoist. Ich hatte die Biographie über Ernst Thälmann genau studiert; es war ein leichtes Stückchen, mir eine Großmutter auszuhecken und sie in jene Spannen einzusetzen, die im wirklichen Leben Thälmanns nicht oder nur wenig dokumentiert waren, so in die Monate um den V. Weltkongress der Komintern in Moskau oder in die Zeit, in der er als Reichstagsabgeordneter in Berlin lebte. Ich meinte, nichts übersehen zu haben. Für Thälmanns Familie in Hamburg hatte ich mich nicht interessiert. Dumm! Sehr dumm! Ein Lehrbeispiel für die fatale Verhakung von Identifikation und Verdrängung. Als ob man die Konkurrenz loswird, indem man die Augen vor ihr verschließt! Ich habe für meine erfundene Großmutter gehandelt und gedacht. Es wäre für sie schwer zu ertragen gewesen, wenn sie sich als Zweite hätte fühlen müssen, ein dominanter Charakter wie sie. Und deshalb hat sie die Frau ihres Geliebten mehr oder weniger ignoriert. Und eben nicht nur die Frau. Sondern auch – die Tochter.
Irma Thälmann. Geboren 1919 (also sechs Jahre vor meiner – fiktiven – Mutter). Sie hatte den Nationalsozialismus und den Krieg überlebt und hatte sich 1945 in der sowjetisch besetzten Zone niedergelassen. – Sie war die letzte Instanz .
Ich begegnete ihr nur einmal: bei unserer feierlichen Gegenüberstellung. Oder sollte ich sagen: bei meiner Inthronisation?
Sie war Anfang sechzig, trug einen wuchtigen, das Bäuchlein betonenden dunkelblauen Rock und eine weiße Bluse, deren Ausschnitt von einer goldenen Brosche zusammengehalten wurde. Ihr Haar war schwarz gefärbt und in eine Dauerwelle gelegt, ihre Augen hatten etwas Mongolisches, worauf sie – wie mir Hung zuflüsterte – stolz sei, weil einmal einer gesagt habe, sie glichen den Augen Lenins. Unser Zusammentreffen fand in einem kleinen Saal in dem erst vor kurzem eröffneten Pionierpalast Ernst Thälmann statt – wo sonst. Eigentlich war ein Vorgespräch zwischen und mit Tochter und Enkel geplant gewesen, bei der wir die Zeremonie hätten absprechen sollen. Frau Gabel-Thälmann aber hatte sich geweigert, mich zu treffen, und hatte auch angekündigt, sie werde mir nicht die Hand geben, weswegen ich gebeten wurde, ihr meine Hand nicht entgegenzustrecken.
Etwa fünfzig Personen waren geladen, darunter einige Minister – selbstverständlich der berühmte Erich Mielke, der Hausherr des Ministeriums für Staatssicherheit, in dessen Gästehaus ich seit über einem Jahr wohnte. Er begrüßte mich mit offenen Armen und drückte mich an sich, als ob wir alte Freunde wären, wobei ich sein Ohr auf meinem Brustbein spürte, so klein war er, immerhin hat er mein Herz schlagen hören. Aber auch der Minister für Verkehrswesen, ein gewisser Otto Arndt, und der Minister für Kultur, ein gewisser Hans-Joachim Hoffmann, waren anwesend. Und, was der Sache ein Gewicht jenseits des normal Wägbaren gab: gekommen waren auch der Staatsratsvorsitzende und Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Genosse Erich Honecker, und seine Frau, Genossin Margot Honecker, Ministerin für Volksbildung.
Wir standen, die letzte Instanz saß. Vorne links saß sie.
Erich Honecker, im Dunkelblauen mit hohem Revers, hielt eine kleine Ansprache, in der viermal das Wörtchen »Geheimnis« vorkam – »Geheimnis«, das zu lüften er nicht befugt sei, »Geheimnis«, das über die Wissenschaft hinausweise, »Geheimnis«, das den Reiz des Lebens ausmache, und »Geheimnis«, das auch im Leben unseres größten Helden seinen Platz gehabt habe.
Zu meiner Rechten stand Hung. Er war in den vorangegangenen Tagen der Bote zwischen dem Zentralkomitee und mir gewesen. Er drückte mir heimlich die Hand. Ich glaube, er war mehr aufgeregt als ich. An meine linke Seite schob sich die Advocata, auch sie drückte meine Hand. Ich solle mich nicht fürchten, flüsterte sie mir zu, alles sei gut und alles werde gut.
Ein junger Mann, schlaksig, mit langen, nach hinten gekämmten blonden Haaren, trat ans Mikrophon. Er sei einer von Honeckers Sekretären, steckte mir Hung, und zwar der, dem ein Draht zur Jugend und zu den Kirchen nachgesagt werde. Der Mann, jünger als ich, erzählte erst ein paar Anekdoten aus seiner Kindheit, die mit Ernst Thälmann zu tun hatten, und verkündete
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