Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
übrigens nie überrascht gewesen, Vater zu sein. Das erzählen Väter doch. Sie erzählen, sie seien Vater geworden, und dann, nach Wochen, plötzlich, wie ein Schmerz in der Brust: Ich bin Vater, ich bin Vater! Die Besoffenen in den Kneipen am Prenzlauer Berg hatten das erzählt, und dabei waren die Tränen über ihr Schnapsgesicht gelaufen. Bei mir war es anders gewesen. Ich habe mich nicht gewundert, ich war im Kreissaal und half mit beim Atmen. Es hatte sich so ergeben. Wie sich mein ganzes Leben so ergeben hatte. Wie kann ein Mensch anders denken? Es gibt doch nichts, was für mich gemacht worden wäre, extra nur für mich! Ich habe es erobert oder habe es weggestoßen, habe mich davon abgewandt oder habe es ignoriert. Letzteres schien mir die adäquateste Reaktion gegenüber den meisten Phänomenen.
Meister Eckhart sagt: Gesetzt, ein Mensch wollte sich in sich selbst zurückziehen mit allen seinen Kräften, den inneren und den äußeren, und er stände in diesem Zustand überdies auch noch so da, dass es in seinem Inneren weder irgendeine Vorstellung noch irgendeinen ihn zwingenden Antrieb gäbe und er solchergestalt ohne jedes Wirken, inneres oder äußeres, dastände: – da sollte man dann gut darauf achten, ob es den Menschen in diesem Zustand nicht von selber zum Wirken hindrängt. Ist es aber so, dass es den Menschen zu keinem Werk zieht und er nichts unternehmen mag, so soll man sich gewaltsam zwingen zu einem Werk, sei’s ein inneres oder ein äußeres – denn an nichts soll sich der Mensch genügen lassen, wie gut es auch scheint oder sein mag –, damit er sich unter hartem Druck oder Einengung seiner selbst so befindet, dass man eher den Eindruck gewinnen kann, dass der Mensch dabei gewirkt werde , als dass er wirke, der Mensch dann mit seinem Gott mitzuwirken lerne.
Apropos »mitzuwirken lernen«: Als das kleine Land nicht mehr existierte, erfuhr ich, Claras Ingenieur sei am Tag nach unserem Spaziergang durch »sein Revier« festgenommen, in die Stasi-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen gebracht, mit Schlafentzug, Schlägen und Erbrechen hervorrufenden Speisen gequält, vor Gericht gestellt, nach § 106 wegen staatsfeindlicher Hetze und nach § 220 wegen öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung verurteilt und für zweieinhalb Jahre eingesperrt worden. In der Akte war mein Name aufgeführt: IM (Inoffizieller Mitarbeiter) – Dr. Ernst-Thälmann Koch.
2
Nach der Heirat mit Clara Bertuleit stellte mich meine Schwiegermutter Herrn Prof. Gregor Lenz vor. Er lehrte, wie gesagt, an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Marxismus/Leninismus, war ein lustiger Geselle mit schütterem weißen Bart und unterschiedlich langen Haaren auf dem Kopf. Er hatte, wie er gleich bei unserer ersten Begegnung augenzwinkernd bemerkte, ab seinem fünfzigsten Lebensjahr etwas Pastorenhaftes in seinen Charakter einziehen lassen. Um dagegen anzukämpfen, habe er sich mit den Kollegen Hans Lutter und Olof Klohr zum Forschungskollektiv wissenschaftlicher Atheismus zusammengetan. Ich mochte ihn gern, er lachte viel, seine ofenringgroße Hornbrille und seine langen gelben Zähne machten ihn zum Ausstellungsstück der Philosophischen Fakultät in Greifswald. An einem Tag in der Woche war er in Berlin und hielt bei den Theologen »eine atheistische Vorlesung«, wie er sagte; das meine etwas anderes als eine Vorlesung über Atheismus – woraufhin er das wunderbare Wort Oxymoron in meinen Wortschatz einführte.
Ich argwöhnte zuerst, er würde mich verächtlich behandeln oder einfach ignorieren, wenn nicht sogar subversiv bekämpfen; er wusste natürlich, dass ich ihm von oben als sein Assistent aufs Auge gedrückt worden war. Aber er begegnete mir herzlich. Zu meiner Begrüßung im Institut hatte seine Frau eine Torte gebacken; ihre Torten seien als besonders fett und süß bekannt, ich solle lieber erst probieren, sagte er, bohrte mit dem Zeigefinger in das sahneweiße Kunstwerk und ließ mich seinen Finger ablecken.
Nachdem die stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats und ebendort zuständig für Fragen des Bildungswesens, Genossin Schwiegermutter Bertuleit, gegangen war, lockerte Prof. Lenz seine Krawatte und fragte mich ohne Umschweife, ob ich an Gott glaubte.
»Nein«, antwortete ich, »ich glaube nicht, ich weiß.«
Natürlich kannte er das Zitat von C.G. Jung. Ich setzte ihm auseinander, dass er mich und wohl auch C.G. Jung falsch verstehe. Ich meine es wörtlich,
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