Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
sollten zu diesen Themen: Gott mit bestimmtem Artikel, Gott mit unbestimmtem Artikel, Gott ohne Artikel. Damit waren meine zweite und dritte Vorlesung gerettet – und wie sich bald herausstellte, alle Vorlesungen bis ans Ende des Semesters, denn jeder Gedanke brachte mindestens zwei weitere Gedanken hervor, die sich in Arbeitsgruppen behandeln und in Referate verwandeln ließen.
Mein Motto lautete: Jede Frage, die gezeugt und geboren wird, um einer positiven Antwort zu dienen, ist erlaubt, und nur solche Fragen. Das hob, erstens, die Laune. Gab, zweitens, Mut. Animierte, drittens, die Studenten, ihre Spekulationen ungehemmt wuchern zu lassen; wohinter ich, viertens, meine völlige Unkenntnis der Materie prächtig verstecken konnte.
Ich habe nichts anderes getan, als zu fragen – zum Beispiel: »Könnte der Gott, angenommen, es gibt ihn, die Zeit erschaffen haben?« – »Findet einer von Ihnen ein Buch in der Bibliothek, in dem zu diesem Thema etwas gesagt wird?« – »Was sagt Augustinus zum Thema Zeit?« – »Warum beantwortet Augustinus nicht die Frage, ob Gott die Zeit erschaffen hat?« – »Warum ist es üblich, das Wort Mensch mit einem Artikel, bestimmt oder unbestimmt, zu versehen und nicht ohne?« – »Gäbe es den Gott, hätte er Ohren und Augen? Oder würde er, falls er über die Zeit gebietet, Ohren und Augen nicht nötig haben?«
Zur Halbzeit des Semesters mussten wir in einen größeren Hörsaal umziehen, weil inzwischen so viele Studenten meine Vorlesung hören wollten – und nicht nur Studenten, auch Kollegen vom Lehrkörper wollten mich hören, sogar Hung besuchte die eine oder andere Veranstaltung, Parteifunktionäre kamen, und auch, wie Prof. Lenz mir in seiner unvergleichlich neidfreien Art versicherte, »ganz einfache Menschen von der Straße, die erfahren haben, dass hier eine Gelegenheit geboten wird zu denken, einfach zu denken, zu denken, zu denken, einfach nur zu denken«. Und: Margot Honecker, die Ministerin für Volksbildung, ließ keine meiner Vorlesungen aus. Hinterher tranken wir manchmal einen Kaffee in der Cafeteria bei den Theologen. Ihre Freundlichkeit, in die eine ordentliche Portion mütterliche Erregung gemischt war, machte es mir leicht, über mich zu plaudern; ich hatte nicht das Gefühl, sie wolle mich aushorchen. Ihre Hände waren immer kalt, ich bettete sie zwischen meine. »Sie hat uns der Himmel geschickt«, sagte sie. »Da wir hier bei den Theologen sind, darf ich mich so ausdrücken.«
Das Samstagsfeuilleton vom Neuen Deutschland (ND, 10. März 1984) brachte ein zweispaltiges Porträt von mir. Unter der Überschrift Ein Sokrates unserer Zeit schrieb ein anonymer Autor unter anderem: »Das Leben ist uns geschenkt worden. Dem widerspricht der Marxismus nicht. Selbstverständlich kommt der im Sinne des historischen Materialismus erzogene Mensch nicht auf den Gedanken, die Natur zu personifizieren. Aber dass wir der Natur dankbar sind, versteht sich ebenfalls von selbst. Der zu Bewusstsein erwachte Mensch sieht in diesem Geschenk einen Auftrag: Er soll sein Leben mit Sinn erfüllen. Der Sinn nämlich wird uns nicht geschenkt. Wir Kommunisten glauben nicht an Gott, wir glauben an den Menschen und seine Schöpferkraft. Den Sinn des Lebens muss der Mensch sich selbst geben. Nichts anderes will uns der Philosoph Ernst-Thälmann Koch sagen. Wir verneigen uns vor der Natur, die uns in diesem jungen Gelehrten ein schlagendes Beispiel der Darwin’schen Gesetze liefert, indem sie den Enkel des größten Helden unserer Republik mit solcher Weisheit ausgestattet hat. Die großen Geister unserer Zeit sind sich einig, wir sind im Begriff, in ein neues Stadium der Geschichte einzutreten. Vielleicht gelingt es Ernst-Thälmann Koch, eine sozialistische Transzendenz, eine kommunistische Metaphysik zu entwerfen …«
Nachdem ich als sicher annehmen durfte, dass der Artikel höchsten Orts nicht nur abgesegnet worden war, sondern von dort selbst als ein Hinweis an mich verstanden werden wollte, gab ich meiner Vorlesung im folgenden Sommersemester den Titel:
Sozialistische Transzendenz, kommunistische Metaphysik –
Oxymoron oder dialektische Aufhebung des Äußersten.
Die Veranstaltung musste ins Auditorium Maximum verlegt werden, so gewaltig war der Ansturm.
Zu Beginn bat ich jene Anwesenden, deren Vornamen und Nachnamen mit dem gleichen Buchstaben begännen, zu mir auf das Podium. Es waren acht, etwa ein Prozent der Anwesenden. Ein Angestellter der Universität
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